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Notiz 58: Leipzigreise

Immer wieder mal stelle ich kopfschüttelnd fest, wie viele unbedeutende Albernheiten aus meiner Kinder- und Jugendzeit mir auch heute noch in den Sinn kommen, nach einem halben Jahrhundert mit doch wirklich wichtigeren Dingen. Aus gegebenem Anlass meist, so wie jetzt Mitte März 2010, als ich die Reise zur Leipziger Buchmesse antrete: im Flugzeug von Bologna nach Köln fällt mir ein, was ich – selbst Gott weiß wahrscheinlich auch nicht mehr, wann und wo – gehört oder gelesen habe: Mein linkes Bein, das reibt sich leise, wenn ich zu Fuß nach Leipzig reise. Natürlich bin ich nicht zu Fuß unterwegs. Mit dem Auto vom Adagio nach Senigallia, mit dem Zug nach Bologna Centrale, Aerobus zum Flughafen, im Airbus 319 nach Köln, Verkehrsverbund-Rhein-Sieg zum dortigen Hauptbahnhof und Chlodwigplatz, am Tag darauf, weil der Anschlussflug zu knapp zum direkten Umsteigen ist, wieder von Köln/Bonn nach Leipzig. Erste Überraschung: um Geld zu sparen bin ich erstmals nur mit Handgepäck unterwegs. Und werde als einziger am Sicherheitscheck beiseite gewunken. So was ist mir zuletzt in den späten 70er Jahren passiert, während der RAF-Hysterie in der BRD, auf der Autobahn kurz vor Rhein-Main-Frankfurt. Offenbar sehe ich heute immer noch gefährlich aus, so wie damals. Und wirklich – ich werde entwaffnet! Ahnungslos habe ich in meiner Tasche: Rasierschaum; Shampoo; Zahnpasta, jeweils mehr als harmlose 100 ccm. Meine arglosen Scherze stoßen auf eisige Mienen. Damals übrigens durfte ich nach scharfer Kontrolle weiterreisen und sogar meine beiden Kinder weiter im Auto mitnehmen. Heute wird alles konfisziert und in eine bereitstehende Mülltonne versenkt. Die Zeiten sind eben viel riskanter geworden. Im Vergleich zu Bin Laden war Andreas Baader offenbar ein Rinaldo Rinaldini. Überraschung Nummer 2: nach der Landung in Leipzig rollt der Flieger noch ewig über endlose Rollbahnen und nach dem Aussteigen steht mir ein Fußmarsch bevor, wie ich ihn bisher nur ein Mal so zu bewältigen hatte – in Minneapolis, Minnesota, USA. Beim Rückflug natürlich das gleiche nochmal; jetzt im Besitz der Information, dass dies hier einst ein Heimathafen der sowjetischen MIGs war. Ach so. Naja, dann… Die Buchmesse übrigens hält, was Erzählungen und Berichte vorher versprachen. Auf sehr schönem Gelände in überschaubaren Hallen, trotz der gestiegenen Besucherzahl nicht diese Hektik und das nervige Gedränge wie in Frankfurt. Auch sehe ich hier mehr „normale“ Besucher, nicht diese Mengen von Pradadamen und auf intellektuell gestylten Fielmannbrillenträger (die meisten vermutlich mit Fensterglas). Außer mir, so lese ich in der Leipziger Volkszeitung, sind weitere 1499 Autorinnen und Autoren hier. Ich rechne: wenn auch nur die Hälfte davon eine halbstündige Lesung absolviert, gibt es während der rund 32 Stunden, an denen die Messe geöffnet hat, 375 Stunden Lesungen. Diese Überlegung mindert meine leichte Enttäuschung, dass zu meiner Performance am ersten Tag um halb 12 nicht gerade die Massen geströmt sind. Außerdem ist mein Buch, wenn ich richtig informiert bin, nicht das einzige, das hier neu auf den Markt kommt. Und eine weitere Überraschung, die Nummer 3 also, erlebe ich: an dem wunderbar warmen Vorfrühlingsfreitag besuche ich die Innenstadt von Leipzig. Von meiner ersten Stippvisite im Oktober 1987 – auf der Liedertournee mit Perry Friedman und weiteren Kolleginnen und Kollegen durch die DDR gab es auch ein Konzert in Leipzig – habe ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Jetzt komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Schon der mächtige, fast hundertjährige Hauptbahnhof mit seinen neuen Geschäften und Restaurants auf drei Etagen erinnert mich – schon wieder… – an die USA, etwa die Mall of America in Minneapolis. Dann der Gang durch die Straßen mit den vielen eindrucksvollen, restaurierten Patrizierhäusern und Einkaufspassagen. Die Formulierung“Klein-Paris“ scheint gar nicht übertrieben, zumal auch hier immer mal wieder neue und gelungene Architektur zu sehen ist. Und vor allem: wo ich auch hintrete – Geschichte. Die Nikolaikirche. Das Gewandhaus. Von der Aussichtsplattform auf dem MDR-Turm -Verzeihung: Panorama Tower – sieht man unweit das Völkerschlachtdenkmal. Eine Cappuccino-Pause mache ich in der Mephisto-Bar in der Passage Auerbachs Keller. Und natürlich, zu seinem 325. Geburtstag herausgeputzt, Johann Sebastian Bachs Wirkungsstätte, die Thomaskirche. Schade nur: zum Jubiläumskonzert morgen bin ich nicht mehr hier. Bitte? Ach ja, ich weiß, ich weiß, was viele mir entgegenhalten, wenn ich das erzähle: dass da eben viele Millionen hineingepumpt wurden, nach der „Wende“. Aber in Köln zum Beispiel sind ebenfalls hineingepumpte Millionen in riesigen Baugruben versickert oder haben private Geldsäcke geflutet. Und ich habe gerade wieder am Breslauer Platz vorm Kölner Hauptbahnhof und in der Severinstraße den Eindruck gehabt, als sei hier eben erst der letzte Krieg zu Ende gegangen. Und apropos Krieg: wenn ich lese, dass dieses neue Deutschland weltweit die Nummer 3 bei den Rüstungsexporten ist, dass diese Ausgaben um 100 Prozent gestiegen sind und in diesem Jahr vermutlich die 30-Milliarden-Grenze „knacken“ werden, dann sehe ich so ein Ergebnis wie in der Leipziger Innenstadt noch immer viel lieber… Tags darauf also bin ich dann schon wieder auf der Rückreise. Mit dem Hotelshuttle zum Flughafen Leipzig/Halle, kilometerlanger Fußmarsch zum Terminal, der Flug nach Köln/Bonn und von da aus wieder nach Bologna, mit dem Zug nach Senigallia und dem Auto nach Hause. Und auf dieser letzten Zugfahrt fällt mir ein weiterer Scherz aus meinen frühen Jahren ein, die Geschichte von dem Holzfäller aus dem tiefsten Bayerischen Wald, der im Preisausschreiben eine Reise nach Paris gewinnt. Was ein ähnliches Unternehmen für ihn ist wie jetzt für mich: Auto, Bus, Regionalbahn, Schnellzug, Eurocity von München an die Seine. Und, nach seiner Rückkehr von den Freunden mit Fragen bestürmt, wie es denn so gewesen sei, sagt er (und das könnte ich eben auch sagen, wenn die Freunde mich fragen): „Jo, doch ganz nett, die Stadt. Aber aaarg abgelegen halt…“ 30.03.2010