Notiz 60: Sommergewitter
Es wurde wirklich langsam Zeit. Seit Wochen, ja Monaten diese Hitze. Wo sind wir denn! Irgendwann muss es doch – und dann war es so weit, gestern, am Donnerstag, fing es an. Schwere dunkle Wolken schoben sich über die Hügel, es grummelte von fern, dann zuckten die Blitze über den Himmel, krachender Donner folgte. Das Gewitter, das überfällige, war da. Sattes Rauschen erfüllte die Luft, der Regen prasselte auf die ausgedörrte Erde, die Pflanzen schienen ihn einzusaugen, das braune Gras fing fast sofort an neu zu grünen. Gereinigt nicht nur die verstaubten Autos, sondern vor allem die Luft, ein Aufatmen, ein Durchatmen wie schon lange nicht mehr. Kurz: es ereignet sich, endlich, was dieses Land so lange gebraucht hat.
Und wie von selbst stellt sich die Assoziation ein, die Erinnerung an diesen wunderbaren Film „Willkommen, Mr. Chance“ aus dem Jahr 1979, mit dem genialen Peter Sellers in der Rolle des alten Gärtners, dessen versonnene Bemerkungen aus seinem Berufsleben durch eine zufällige Bekanntschaft mit höchsten Repräsentanten der Gesellschaft als tiefsinnige wirtschaftliche und politische Aussagen gedeutet werden. Das eingangs Geschriebene könnten Chancy Gärtners Anmerkungen gewesen sein: an diesem gleichen Tag, als sich über den Marken dieses Gewitter austobte, blitzte, krachte und donnerte es nämlich auch in Rom, in der Politik.
Es wurde wirklich langsam Zeit! Seit Wochen, ja Monaten diese quälende Atmosphäre. Wo sind wir denn, wie oft haben wir uns das gefragt, angesichts der immer neuen schauerlichen Meldungen in der Tageszeitung Repubblica. Irgendwann muss es doch – und nun war es so weit, gestern, am Donnerstag, fing es an. Der einst so strahlende Himmel über den beiden Gründerfiguren der neuen politischen Formation „Popolo della Libertà“ (PDL), Silvio Berlusconi und Gianfranco Fini, hatte sich endgültig völlig verfinstert. Das schon seit längerem vernehmbare Grummeln war in einem Donnerschlag geendet, der „Cavaliere“ (Berlusconi) hatte seinen Widersacher rausschmeißen lassen aus dem PDL, keine Partei im herkömmlichen Sinn, ein Zweckbündnis mit eigentlich nur einem Ziel, nämlich den Milliardär vor drohender Verfolgung durch die Justiz zu schützen, indem es ihn zum Regierungschef zu machen half. Der Geschasste – vom politischen Werdegang ein Neofaschist, der sich inzwischen überaus straatstragend und moderat gibt – schleuderte Blitze zurück. Krachender Donner in den Medien folgte. Ein Raunen und Rauschen erfüllte die Szene, die Nachrichten prasselten aus Zeitungen und Radios und Fernsehen, die Menschen schienen sie einzusaugen, von „L’ora della libertà“ („Die Stunde der Freiheit“) schrieb der Chef der Repubblica aufatmend, durchatmend – kurz, es ereignete sich, was dieses Land so lange gebraucht hat.
Am Tag darauf, freitags, sitze ich in meinem Stammcafé in Senigallia und verschlinge die Berichte in der Repubblica, dieser – fast – einzigen italienischen Zeitung, die noch nicht von Berlussolini (wie ich ihn nur noch nennen möchte) kontrolliert wird. Wieder prasselt heftiger Regen auf die Plane der Sonnenmarkise, unter der ich sitze, und auf den hübschen kleinen Platz davor. Die Menschen scheinen das zu genießen, alle. Lachend, schnatternd und durchnässt eilen sie vorbei oder kommen sie hereingerannt, bestellen Espresso oder Cappucino und warten, dass der Regen aufhört. Besonders aber freuen sich natürlich die „Clandestini“, die Männer aus Afrika oder Asien, die laut rufend ihre heute einzige Ware anpreisen: Schirme, Stockschirme und Knirpse, in allen möglichen und unmöglichen Farben und Designs. „Ombrellombrellombrellombrello…“ schreit einer, ein anderer tanzt vor den Stühlen und Tischen entlang und kiekst „I’m singing in the rain“. 20 Euro ist der Anfangspreis, nach kurzem Handeln kriegt man so ein Ding aber dann für 5. Auch ich kaufe mir einen, den eigenen habe ich heute früh vergessen, da hat es gerade nicht geregnet, als ich losfuhr. Und ich entdecke als Herstellerangabe: Volksrepublik China. Was denn auch sonst.
Dem Mann im politischen Regen in Rom wird ein simpler Schirm nicht nützen. Auch heute, Samstag, zwei Tage später, während sich bereits wieder der strahlend blaue Himmel des vom Atlantik herübergezogenen Hochs über das Land wölbt, geht es über den „Cavaliere“ und seine Spießgesellen knüppeldick herunter. Andererseits: der Mann hat schon so viel gedreht, getrickst und durchgestanden, nicht auszuschließen, dass er auch diesmal irgendeinen Weg findet, sich aus der Klemme zu befreien. Sein Leibarzt übrigens hat schon vor sechs Jahren erklärt, Berlusconi nehme ständig Provitamine, Enzyme, Mineralstoffe wie Magnesium und Selen, Antioxidantien, immunstärkende Mittel und ein spezielles Joghurt zu sich, er sei deshalb „fast unsterblich“. Gut so! Dann kann er hoffentlich auch die vielen, vielen Jahre Knast absitzen, die er sich in seinem Leben bisher verdient hat. Und die er aufgebrummt bekommen wird (zumindest: könnte), wenn der Schutz vor Strafverfolgung als Ministerpräsident wegfällt.
Wenn. Noch ist es nicht so weit. Leider. Nur ein Sommergewitter. Bisher.
30.07.2010