Notizen (22): NEUN TAGE IM NOVEMBER
Ich brauche das nicht. Neun Tage Köln, Anfang November 2004. Dabei ist es nicht so, als ob ich gar keinen Spaß hätte, neben den Pflichtterminen, die ich nacheinander abhake: Zahnarzt (Routinekontrolle), Internist (Blut abzapfen lassen), Urologe (Krebsvorsorge), noch mal Internist (Untersuchung und Besprechung). Kein Befund, nirgendwo, alles in bester Ordnung (selbst die Leberwerte, trotz des vielen guten Weines in den Marken…). Ich weiß, inzwischen noch genauer als früher schon, was für ein Glück das ist, mit zunehmendem Alter, immerhin bin ich seit drei Monaten anerkannter Rentner.Spaß also auch beim Pflichtprogramm.
Mehr natürlich bei der Kür: Besuch der Lokale von damals, vietnamesische Fischsuppe und gebratener Reis, Kölsch dazu, die gleiche herzliche Begrüßung im Stammcafé SPITZ am Eigelstein, wo ich immer gesessen und geschrieben habe; und noch mehr die Treffen mit Freundinnen und Freunden. Kaum genug Zeit für alle, die mich gern sehen wollen, die ich gern sehen will. Und immer die gleiche Antwort auf die gleiche Frage: ob es mir denn weiterhin so gut gefällt, da unten in den Marken? Ein schlichtes, aber uneingeschränktes: Ja.
Ich brauche das nicht. Fernsehen zum Beispiel. Zunächst kam mir der erste Blick in den Kasten noch vor wie eine freundliche Aufforderung an den in mir schlummernden altbösen Satiriker: Rudolf Graf Pilati Scharping als Experte für die deutsch-amerikanische Freundschaft bei Sabine Christiansen – ja, a Woahnsinn!! Sofort abgeschaltet natürlich. Aber in den nächsten Tagen diese gelegentlich reingezappten Fetzen der ARD-Berichterstattung von dem Kasperletheater Kerry-Bush-Wahl zeigten mir wie Tagesschau und Tagesthemen – das ist alles so fürchterlich uninteressant, unwichtig; für mich…
Ich brauche das nicht: diese Menschenmassen morgens, zum Beispiel, kurz vor acht auf dem Bahnsteig 9 und im Nahverkehrszug von Köln über Bonn nach Koblenz (ich muss ja Gottseidank nur bis Sechtem, das dauert 19 Minuten). Todmüde Gesichter, Dunkle Ringe unter leeren Frauenaugen, kein Cajalstift und kein Hinweis auf ausschweifend genossene Nächte der Lust), Männerkinne mit verkrampft aufeinander gepressten Kiefern, böser Blick ins Leere des überfüllten, stickigen Abteils.
Ja doch: diese Stadt Köln ist dem Frohsinn verpflichtet, in wenigen Tagen geht es wieder los, auf dem Altermarkt. Nur: er ist nirgends mehr zu spüren, dieser Frohsinn. Und die Plakatserie der – na, wer sonst! – BILD-Zeitung verstärkt noch den Eindruck von Elend und Trostlosigkeit: SUFFE, POPPE, DANZE – wo es in unserer Stadt richtig abgeht. (Für Nichtkölner: SAUFEN, FICKEN, RUMHOPSEN – warum eigentlich nicht KOTZEN?)
Ich brauche das nicht.
Und auch das nicht: diese Ängste und Sorgen. Um buchstäblich das tägliche Brot; um das Kind, schon erwachsen und doch (noch) nicht lebensfähig; um den Arbeitsplatz; um die eigene Gesundheit oder die der Familie; ganz allgemein: um die Zukunft. Nein, das hab ich früher so nie erlebt (als es meinen Eltern so ging, kurz nach dem 2. Weltkrieg, war ich noch zu klein, um das mitzukriegen). Natürlich gab es auch früher schon Ängste und Sorgen, Unzufriedenheiten und Ärger, Frust und Wut. Aber das war anders: da gab es auch noch die Überzeugung, es ließe sich etwas dagegen tun, es gab den Glauben an die Veränderbarkeit. Wenn wir erst mal, beispielsweise, eine linke Regierung hätten (sorry: die SPD galt ja mal wirklich als links…), ergänzt durch Leute aus der Friedens- und Umweltbewegung, dann würden – ach was! Keine Revolution natürlich – aber doch Schritt für Schritt Verbesserungen durchgesetzt, soziale und außenpolitische. Hahaha! Rotgrün ist an der Macht, seit 1998, und als neue Höhepunkte der – im perfekten Orwell’schen Newspeak „Reformen“ genannten – Gemeinheiten kommen aus eben diesen total vereichelten SPD-Hirnen Anregungen wie die Abschaffung des 1. Mai als Feiertag oder die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche. Und die Grünen waren im Kosovokrieg so verlogen-idealistisch mit von der Schröder-Scharping-Partie wie nicht einmal gestandene Konservative aus der Union. Die ja, wenn sie denn wieder dran käme an die Regierung, nicht besser wäre (wenn auch, so scheint es mir, nicht sooo viel schlimmer als Erfüllungsgehilfen von Ackermännern, Rogowskis und der ganzen neoliberalen Global-Bagage).
Ich brauche das nicht. Und, mehr noch: ich werde da nicht gebraucht. Weniger denn je. Illusionen hatte ich nie (nun gut: selten…), dass mir irgendwann bescheinigt werden könnte, ich hätte mich „verdient gemacht“ um (wenigstens einen Teil von) Deutschland“.
Also zurück in die Marken, aus der Stadt aufs Land, aus der Zivilisation auf die Baustelle. Ach du lieber Himmel, ja: Berlusconi…!? Ich bin ja nicht blind. Aber hier bin ich so weit weg von all dem Elend auch in diesem Land. Eine unglaublich schöne Gegend. Ruhe. Sonne. Zwanzig Minuten zum Meer. Nebelschwaden als Herbstboten. Jeden Abend sehe ich den Fortschritt meiner eigenen Hände Arbeit, am Haus, im Gelände, und ich belohne mich mit einem guten Essen und einem herrlichen Rotwein.
Hier werde ich gebraucht. Und das brauche ich.
4.11./10.11.04