Notiz 41: Ein verschmerzbarer Verlust
Wer verliert schon gerne… Ich auch nicht. Und selbst wenn ich sehr viel Zeit habe, zurzeit – auch Zeit verlieren will ich trotzdem nicht. Genau deshalb lande ich heute, an diesem 23. August 2007, in der Osteria del Tempo Perso (Gastwirtschaft zur verlorenen Zeit) in Senigallia. Weil nämlich in anderthalb Stunden ein weiteres, vielversprechendes Open-Air-Konzert beginnt und weil ich hier im Zentrum von Senigallia sonst kein Restaurant kenne und weil die Pizzeria gleich hier um die Ecke voll ist bis auf den letzten Hocker; und weil ich hier in der Nähe einen sehr günstigen Parkplatz gefunden habe.
Nun bin ich ja – zur Verwunderung mehrerer Freundinnen und Freunde – seit meinem Umzug hierher so pro-italienisch geworden wie ich in meinen naivsten Zeiten kaum pro-amerikanisch war. Da muss dann also schon was passieren, um mich ungehalten zu machen. Hier passiert es. Um das gleich zu sagen: Zeit verliere ich nicht hier, die Getränke und das bestellte Essen kommen ziemlich zügig, schließlich sind außer mir auch kaum andere Gäste in dem Gartenbereich des Lokals. Aber ich verliere ein Stück Lebensqualität, auf die ich Anspruch zu haben meine. Was die Sache nicht einfacher macht: ich hätte das wissen müssen. Ich habe nämlich in diesem Schuppen hier schon gegessen. Vor vier Jahren etwa und damals gar nicht mal so schlecht, wenn ich das nicht in der Rückschau verkläre; aber dann, vor vielleicht anderthalb Jahren noch mal, und das war überhaupt nicht gut, leider. Diese Erfahrung hätte mich unbedingt daran hindern müssen, hier Platz zu nehmen. Und jetzt dieses eben angekommene Amuse Gueule zu probieren. Um festzustellen, dass es genau so schmeckt wie es aussieht: graugrüner Pappkarton in Form einer Muschel mit einem bleichen Mayo-Dip. Nicht nur meine Gueule ist not amused. Und es geht weiter so. Das Brot, für den Coperto-Preis von 2 Euro, ist hart und trocken, die Rosmarinstangen fad und bröselig. Immerhin ist das Wasser offenbar tatsächlich naturale und der Rotwein längst nicht so sauer wie der gemischte Salat, der eine Überdosis Balsamico-Verschnitt erwischt hat. Da fällt nicht weiter auf, dass der Pfeffer darin fehlt. Im Vergleich mit alledem ist die Tagliata eine echte Überraschung: man kann sie essen! Besonders wenn man die überflüssigen Grobsalzkörner von den schmalen Fleischstreifen schiebt. Aber teuer, das alles! Für das gleiche Geld – 27 Euro – essen wir sonst zu zweit in unserer Stamm-Pizzeria in Ripe.
In Ripe allerdings findet auch kein SUMMER JAMBOREE statt wie hier in Senigallia. Mit einer Woche voller Events, dass es nur so scheppert, im wahrsten Sinn des Wortes. Oldies in jeder denkbaren Variante toben sich aus – auf Bühnen, an zahllosen Ständen, unter Zeltlingen, in Kneipen, in Discos, auf Straßen und Plätzen; auch auf Parkplätzen: zahllose Oldtimer lassen Senigallia hier aussehen wie Havanna… Rock’n’roll frisch vom Fass, das hier Abend für Abend aufgemacht wird, an 17 verschiedenen Spielorten, von Live-Bands mit so vielversprechenden (und es meist auch haltenden) Namen wie Hellcats (aus Italien), The Revolutionaires (United Kingdom), The Fabulous Harmonaires (USA) und der Rock-Legende Jerry Lee Lewis höchstpersönlich. Und dann auch von the world’s hottest djs. Auch diese Brigade international, sogar Deutschland ist vertreten, beide Teile, wie ich vermute: da ist die „Heidi“ einerseits und ein „Staatsrat“ andererseits zu genießen.
Und heute also, ab kurz nach 22 Uhr, das Abbey Town Orchestra, eine Big Band mit 22 Musikern, auf der Hauptbühne am Foro Annonario. Auch das Wetter spielt mit, nach heftigen Gewittern heute Nachmittag hängt jetzt der Mond friedlich und schräg am Himmel, halb voll. So wie meine Zufriedenheit mit dem hier Gebotenen. Die Band und ihre Arrangements: große Klasse; die Sängerinnen und Sänger eher Regionalliga. Ein ungetrübter Genuss jedoch: das Publikum. Der Platz schließlich voll, viele Oldies, die den Oldies auf der Bühne fußwippend lauschen, dazwischen immer wieder tanzende Paare, Teenies und Twens, und die in einem Outfit, dass ich mir jünger vorkomme als ich in den 60er Jahren war: Schmalzlocken, Matrosenanzug mit Käppi, die Frauen mit hochgesteckten Haaren und Busen, viele mit Lindes-Kaffee-Röcken: diesen so apart gepunkteten Stoffen, und rockend und rollend wie einst.
Als dann, so gegen Mitternacht, eine Pause auf der Bühne ein- und der DJ Terry Elliot (UK) nach vorn ans Mikro tritt, dieser Mensch im roten Anzug, der mich schon am Anfang, vor der Big Band genervt hat, weil er mich so an den Herrn Scholl-Latour erinnert, auch vom Temperament her (nichts gegen denselben, als nörgelndes Highlight in der Talkrunde von Sabine Christiansen; aber doch nicht als DJ bei einem Jamboree…!) – also da komme ich wieder auf den Anfang des Abends zurück: ich denke, hier habe ich nichts mehr verloren. Nach der gebrüllten Verabschiedung von den Freunden, die ich hier traf (Lautsprecher werden hier immer bis zum äußersten Anschlag aufgedreht), und auf der Fahrt zu einem (vorzüglichen) Glas Rotwein zu Hause dann noch ein paar Gedanken zum Thema Verlorenheit. Es wird ja überall und ständig etwas verloren. Viel mehr als gefunden, das zeigt ein Blick in die Zeitungsrubrik unter dieser Doppelüberschrift. Verloren werden: Geldbeutel; Wetten; Schirme; Fußballspiele; Eier; die Geduld; mein Herz (gerne in Heidelberg); Autoschlüssel; die Beherrschung; Kriege; der Überblick; gute Freunde und liebe Großmütter; das Gedächtnis; und zuletzt auch noch das Leben…
Dies alles erwägend erkenne ich, dass ich heute Abend im Grunde wieder gut davongekommen bin. Den Verlust der Hälfte von 27 Euro (die andere Hälfte hätte ich sicher sowieso ausgegeben, fürs Abendessen) und die Einbuße von ein wenig Lebensqualität durch ein schlechtes Restaurant und ebensolche Sänger sind ja doch irgendwie marginal und somit verschmerzbar. Wahrlich kein Grund, darüber auch nur noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren.
- August 2007