Notiz 43: Menschen im Zug
Für mich haben sie eigens eine Pause gemacht, die streikenden Lokführer bei der Deutschen Bahn. Kein Problem also, mit der S-Bahn 13 vom Flughafen zum Hansaring zu fahren, pünktlichst ab um 18.34 Uhr und an um 18.52. Von dem Streik, der immer gewaltigere Wellen schlägt, in den deutschen Massenmedien jedenfalls, kriege ich nichts mit, noch nicht. Kann sein, dass es nächste Woche anders aussieht, wenn ich auf Züge angewiesen bin, um meine geplanten Arzttermine zu absolvieren. Mir kommt das alles ganz normal und friedlich vor hier in Köln, bei meinem letzten Besuch für dieses Jahr 2007. Nach einem Essen in meinem thailändisch-vietnamesischen Stammrestaurant um die Ecke mache ich mir noch eine Flasche „Floriano“ auf, ein Glas von diesem weichen, runden Rotwein von unserem Biowinzer in den Marken soll den Abend abrunden und über die „Tagesthemen“ hinweghelfen. Was nicht so ganz leicht ist: der „Musikantenstadl“ will überhaupt nicht aufhören, und als es dann endlich so weit ist, verkündet Moderator Buhrow weitere Katastrophen – passgenau zur Veröffentlichung des Weltklimaberichts hat der Wirbelsturm Sidr in Bangladesh anschaulich gemacht, was uns erwartet, „wenn wir so weiter machen“ (Tom Buhrow). Und alles deutet darauf hin, dass wir das tun werden. Vor zehn Jahren hab ich, in meinem Lied „Im Hamsterrad“ geschrieben: „Alles hat sich geändert, aber nichts ist wirklich neu / Alle bleiben dem Verrat an ihren Grundprinzipien treu“. Stimmt auch heute noch, und längst nicht nur bei der SPD.
Melancholisch mache ich den Fernsehapparat aus und gehe zurück in die Küche, um mir ein weiteres Glas Floriano einzuschenken. Und da fällt mir ein, dass ich schon vor längerer Zeit etwas geschrieben habe, was ganz gut zu meiner jetzigen Stimmung passt. Dank den Gigabytes an Speicherplatz auf dem Laptop und einem inzwischen erschreckend perfekten Suchsystem finde ich den Text auch schnell, der Titel auch damals:
Menschen im Zug
Aus dem Fenster der winzigen Küche meines Einzimmer-Appartements in Köln sehe ich die Züge, die aus dem Hauptbahnhof kommen oder in ihn hineinfahren. Morgens zum Beispiel um neun Uhr herum kommt der THALYS aus Paris an. Jetzt am Abend, während ich mir einen Gemüsetopf mit Lammkoteletts zubereite, rollen klackernde Vorortzüge vorbei, moderne zweistöckige Wagen oder die alten, von Sprayern bizarr verzierten Waggons aus den Zeiten der seligen Bundesbahn. Längst ist es Nacht, jenseits der Geleise ein paar erleuchtete Zimmer, Küchen, Lagerräume. Am Himmel zieht ab und zu ein Flugzeug vorbei, im Landeanflug auf Köln/Bonn.
Manche Züge müssen draußen vor dem Hauptbahnhof warten, ehe sie einfahren dürfen. Dann steht ein Waggon vor meinem Fenster wie ein Bild von Edward Hopper. Vor dem warmen Schwarz der Geleise und der Häuser gegenüber und dem schmutziggrauen Himmel klar abgesetzte Farbflächen: vom Neonlicht in blassgrünes Licht getauchte Großraumabteile, leuchtendrote Türen, kräftigblaue Sitze. Viele noch besetzt mit Reisenden, die nicht aussteigen werden, hier in Köln. Schlafende. Zeitung lesende. Ins Leere Starrende. Menschen ohne Kopf, der von den Fenstern abgeschnitten ist. Die hellblonde Mähne einer jungen Frau, die mir den Rücken zuwendet. Sie schaut in Fahrtrichtung, warum es nicht endlich weitergeht. Andere sind bereits in ihre dicken Jacken geschlüpft und stehen unter den Gepäcknetzen, in denen ihre Koffer liegen. Ungeduldige können es nicht erwarten, in die Arme der Geliebten geschlossen zu werden. Und wenn die – oder der – nicht auf dem Bahnsteig stehen? Es spielen sich Dramen ab, während ich die Frühlingszwiebeln schäle und in kleine Scheiben schneide. Der Zug will einfach nicht weiterfahren. Die Leuchtschrift, gelb auf tiefgrünem Grund, schickt rätselhafte Botschaften herüber: RE8 – KÖLN-DEUTZ. Aus einem Fenster weiter hinten im Waggon schaut ein Uniformierter her zu mir – der Schaffner (oder wie heißt das heute?). Er sieht, wie ich die Lammkoteletts salze und pfeffere. Oder sieht er es nicht? Ich sehe hinter ihm eine bleiche Hand, die langsam hochzieht und ihm übers Haar streicht. Eine Frau ist neben ihm aufgetaucht. Seine Frau? Nie! Die Blondine mit dem Rücken zu mir ist aufgestanden, schüttelt ihre Mähne, setzt sich verärgert wieder hin, immer noch kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Wird sie in einer haben Stunde im Bett ihres Freundes lustwimmern? Oder wartet ihr Vater auf sie, mit der traurigen Nachricht, dass es nun doch Brustkrebs ist, bei Mama? Es ist bitter kalt an diesem 4. März 2005. In meiner Wohnung ist es warm. Das Essen ist in wenigen Minuten gar. Ich öffne eine Flasche Merlot von Ernesto & Julio Gallo, California.
Der Zug erhält Einfahrt in den Hauptbahnhof, er verschwindet, die dunklen Geleise warten auf den nächsten.
Auf WDR 3 wird ein Konzert armenischer Musiker übertragen.
Der Bundeskanzler ist auf seiner Nahostreise heute in Abu Dhabi angekommen.
Das war vor zweieinhalb Jahren. Heute haben wir eine Kanzlerin statt dem Basta-Schröder. Und ich habe einen „Floriano“ statt einem Merlot im Glas. Na denn: buona notte!
- November 2007