ITA ING DEU

Notiz 51: Unvorhergesehenes

Nach fast 70 Jahren Leben in dieser Welt, die sich immer rapider in die Sphären der Unbegreiflichkeit ausdehnt (wer erklärt mir, nur zum Beispiel, den Erfolg eines Berlusconi wirklich?), ist es dennoch – paradox auch dies – nur noch selten, dass ich etwas Unvorhergesehenes erlebe. Irgendwie kommt es mir vor, als sei schon alles da gewesen. Bereits Kurt Tucholsky beklagte, es gebe keinen Neuschnee mehr. Umso wichtiger für mich also, es festzuhalten, wenn mir so etwas widerfährt; wie gerade eben diese Reise ins Unerwartete, So-nicht-Vorgestellte, als ich Mitte Januar 2009 ganz spontan einen Flug nach Deutschland buchte und das günstigste Angebot auswählte: von Ancona, also praktisch vor meiner Haustür, nach Düsseldorf. Doch, das gibt es!

Düsseldorf?! Ja. Der Billigflieger RyanAir (warum ich mit denen fliege, rechtfertige ich ein andermal) nennt das Flugziel so: Düsseldorf (Weeze). Es hat deswegen Prozesse gegeben, eigentlich wollte Düsseldorf  das gern verhindern. Aber in unserer so wahnsinnigen freien Marktwirtschaft hat (auch) das einfach nicht geklappt. Und von meinem Wohnort Corinaldo nach Köln ist dies die preiswerteste und auch noch kürzeste Verbindung: ziemlich genau sechs Stunden von Haus zu Haus.

Zunächst geht auch alles seinen ganz normalen Gang. Ancona-Falconara ist einer von diesen noch kleinen Provinzflughäfen mit wenigen Starts und Landungen am Tag, fast gemütlich, frei von Hektik, keine Schlangen am Check-in und die paar Meter zum Flugzeug (der lässige Vielreisende sagt: Flieger) geht man natürlich zu Fuß. So wie das in Forlì (nach RyanAir „Bologna-Forlì“) auch mal war, vor wenigen Jahren noch. Der große Jet kaum halb voll, eine multinationale Reisegesellschaft mit Schiebermützen, Kopftüchern, Turbanen und einem (meinem) schwarzen Hut; der Start mit fünfzehn Minuten Verspätung, ein ruhiger Flug durch die schwarze Nacht übers Meer und die Alpen, die Landung zehn Minuten früher als im Plan.

Aber dann: AIRPORT WEEZE. Airport! Gut: die Landebahn ist lang genug und geteert, das ist richtig und natürlich auch notwendig. Aber dann… Auch hier wie zu erwarten der Fußmarsch zur Halle. Ich habe den vorläufig letzten Tag dieser sensationellen Kälteperiode in Deutschland erwischt. Das wäre früher ein Grund gewesen für ein paar Bemerkungen wie „verdammt kalt, heute“ oder „wie schön, mal wieder richtig Winter“. Heute erhitzen sich die Wetterfrösche aller Sender, beschwören das Gigantische des Ereignisses, es gibt Sondersendungen auch bei ARD („Brennpunkt“, wie passend) und ZDF zur Erläuterung der globalen wie lokalen Bedeutung. Für mich bedeutet das: auf dem Treppchen gleich oben an der Flugzeugtür jagt es mir fast den Hut weg, so scharf bläst der eisige Wind. Also möglichst rasch ins Warme! Nur: wo geht es lang? Meine Mitfrierenden rätseln wie ich. Schließlich entdecken wir in der Finsternis, fahl beleuchtet vom fernen Hallenlicht, eine schlotternde Stewardess, sie winkt uns verzweifelt zu sich und dann weiter durch ein Spalier aus Sperrgittern (gab es hier mal Großdemos?) an dem endlosen Gebäude entlang zum hintersten Eingang. Drinnen quietscht rhythmisch ein einsames Gepäckförderband. Und, oh Sensation!, unsere Koffer sind bereits darauf! Schnell also durch eine ganz normale Glastür, also nicht diese grün beschrifteten Portale für zollfreies Passieren oder drohend rot bemalt für kontrollpflichtige Ausgänge, hinein in die riesige Halle, einen Kilometer lang, einen halben breit und achtzig Meter hoch (schätze ich). Außer uns Passagieren noch vielleicht elf Figuren, es ist ja schon spät: kurz nach acht Uhr abends, wahrscheinlich wird hier gleich abgeschlossen und das Licht ausgemacht. Die zwei, drei Schalter für Mietwagen sind schon verrammelt. Die Trostlosigkeit der Anlage wird auch durch einen einzigen, hoch oben angebrachten, bleichen Sonnenschirm nicht abgemildert.

Immerhin: ein runder Holzkasten vor dem großen (handgemalten?) Schild INFORMATION ist noch besetzt. Davor steht ein kleiner Mann, mir scheint: ein Italiener, dahinter thront eine gerade konfirmierte, rosige Jungbürgerin aus Weeze (oder Wemb? Verzeihung, so heißen halt die Orte hier!), hoch gesteckte Haare, höchst nervös, und sie erklärt mit ihren fünfzehn Worten Englisch, wie man nach Bottrop kommt: „Bus… okay?… to stäischen… dann träin, okay… to Düüüsburich, zentrelstäischen… tchäinch tu littel träin bis …“ Der kleine Italiener strahlt, als dürfe er nach Napoli und hinter dem Schalter stünde Claudia Cardinale. Die wiederum strahlt ebenfalls, nämlich als ich sie jetzt auf deutsch frage, wo es zum Bus nach Köln geht. „Ganz einfach! Da die Halle lang, links, bis zum letzten Ausgang, da raus und nur noch über die Straße!“ Stimmt auch, die Auskunft, fast jedenfalls, das letzte Glastor ist „wegen Defekt geschlossen“, also alles zurück und direkt gegenüber der INFORMATION hinaus. 

Immer noch Eiswind, am Boden gefrorener Schnee und Eisreste. Der Bus dann dagegen überheizt. Als er um kurz nach halb neun losfährt mit uns sechs Fahrgästen an Bord, fühle ich mich fast wie in Thailand, Nord-Thailand. An ein paar Baracken und kasernenartigen Häusern vorbei (der Airport war mal, wie zum Beispiel auch Frankfurt-Hahn, ein Militärflughafen, hier einer von den Briten) geht die Fahrt in völliger Nachtschwärze auf einer Schlaglochstraße ins Nirwana, alle zehn Minuten kommt mal ein Auto entgegen, eine plötzlich auftauchende Ampel wirkt völlig deplatziert.

Hier drinnen aber keine Langeweile. Vier Reihen hinter mir sitzt ein vielleicht 35 Jahre alter Handyterrorist. Er wird beim ersten Stopp, Hauptbahnhof Düsseldorf, aussteigen, das erklärt er, bleibend laut und fröhlich, schon der ersten Gesprächspartnerin. Die er… äh, also ich weiß nicht, ich meine, so auf ein Bierchen oder so? gern sehen würde. Ach so… sie hat Probe. Versteht er, na klar doch. Morgen auch? Äh, ob er da nicht mal zukucken… er würde zu gerne mal… ach so, geht nicht, überhaupt nicht – schade, echt schade. Aber… gut, ja, dann probiert er es… nein er erwartet ihren Anruf, gerne! Nur: am Freitag fliegt er schon wieder zurück… ciao! Ciao!

Ruhe und Frieden.

Für drei Minuten. Dann der nächste am Apparat, ein Kumpel. Der Fröhliche hat auch noch Humor. „Wo hab ich dich denn rausgeholt?“ dröhnt er raumfüllend und selberlautlachend und muss das vier Mal sagen, ehe es der Kumpel kapiert. Der aber, leider leider, denn ebenfalls keine Zeit hat heute Abend.

Das nächste Gespräch von hinten, nach weiteren fünf Minuten, wird von vorne überlagert durch die Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem Bus-Radio. Ich werde schläfrig. Und als die Bundeskanzlerin Merkel im Interview ihre großartigen Konjunkturankurbelungsmaßnahmen erläutert, versinke ich erneut in diesem Nord-Thailand-Gefühl: ich verstehe kein Wort von dem, was sie daherblecht.

Ich schlafe ein.

Und wache erst wieder auf, als der Bus am Hauptbahnhof Köln ankommt, kurz nach zehn Uhr schon. Und ich komme mir vor, angesichts des Gewusels und Geflimmeres und Gelärmes da, als wäre ich im Big Apple gelandet. Aber – im Vergleich zu Airport Weeze und dessen Umgebung würde sogar Stuttgart einem vorkommen wie New York, denke ich. Und auch das gehört zu diesem eingangs beschriebenen, völlig neuen Unvorhergesehenen.

Neuschnee allerdings gibt es auch hier in Köln nicht, nicht heute Nacht und auch nicht in den nächsten Tagen. Und Weeze, keine Frage, wird in wenigen Jahren ein Weltflughafen sein, so normal und frequentiert wie Münster-Osnabrück, Kassel oder Friedrichshafen.

16. Januar 2009