Auch mehr als fünf Jahre Leben in Italien und eine ganze Reihe wirklich wunderlicher Erlebnisse haben es nicht vermocht, meine in Jahrzehnten gereifte und gut abgehangene Überzeugung zu erschüttern: ich bin weiterhin tief gläubiger Atheist. Wenn etwas geschieht, was auch nach einigem intensiven Nachdenken rational nicht erklärbar scheint, verbuche ich es auf meinem Mentalkonto „Wiedervorlage – erneute Prüfung“; oder ich schiebe es gleich in die Abteilung AA („Achselzuckende Akzeptanz“). Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Ich bin diese Straße schon Hunderte von Malen gefahren und kenne alle Verkehrszeichen, Warntafeln, Ortswegweiser und Informationsschilder vo Geschäften, Restaurants und Sehenswürdigkeiten. Und dann fällt mir vor ein paar Tagen ein Imperativ auf, gar nicht besonders groß oder in greller Farbe, einfach eine übliche Schrift für solche Texte, und dennoch ist das seither eingebrannt in die Festplatte meines Gehirns und ich komme nicht mehr davon los: MODERARE LA VELOCITÀ – MÄSSIGE DEINE GESCHWINDIGKEIT!
Ich beziehe das natürlich nicht allein darauf, wofür es hier angebracht ist, also den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, weil die Straßenführung gleich eine moderate Fahrweise nahelegt. Und eher nebenbei denke ich, wie gut das passt in die hierzulande gepflegte Art des Fahrens mit mächtig viel PS unterm Hintern, egal ob auf zwei oder mehr Rädern; nämlich die Haltung, dass der hohe Wert individueller Persönlichkeitsentfaltung und Bürgerfreiheit allenfalls dezente Hinweise und Vorschläge verträgt, nicht aber rigorose Einschränkungen oder gar strafbewehrte Zwänge. Der Italiener als solcher, möchte ich damit sagen, fährt entweder sehr gemächlich mit 36 bis 44 km/h, ohne sich durch die von ihm gezüchtete Schlange dahinter verunsichern zu lassen, auch wenn aus derselben zunehmend nervös-überlaute Hupsignale ertönen; oder er rast, als wäre er auf dem Rundkurs von Imola, schnuppert mit seinem Kühlergrill an deinem Auspuff und überholt dich in einer scharfen, unübersichtlichen Rechtskurve. Und beide, der Lahme wie der Wahnsinnige, sind fest überzeugt, den Tipp mit der moderaten Geschwindigkeit beherzigt zu haben.
Aber es ist nicht dieser direkte Bezug auf den Straßenverkehr, der mich dabei so beschäftigt. Ich selbst fahre – Ausnahmen will ich nicht bestreiten – seit meiner Kontamination mit bestimmten grünen Ideen vor mehr als zwanzig Jahren nie schneller als 118 bis 124 km/h, ganz bewusst, nicht etwa, weil meine 17 Jahre alte Japankiste mehr nicht mehr schaffen würde. Nein, es ist der übertragene Sinn, der in dem Spruch steckt. Immer wieder stelle ich fest, dass ich – leider, leider – das mir selbst verordnete Limit meines Lebens- und Arbeitstempos überschreite. Von wegen „sempre con calma“! Viel zu oft sage ich: „Ich will nur noch schnell…!“ – und viel zu selten fällt mir das dann selber auf. Immer noch, trotz der vielen guten Ratschläge von Freunden und entsprechender Ermahnungen von Ärzten nehme ich mir zu viel vor, als dass ich es in der vorgesehenen Zeit schaffen könnte. Das hat sicher damit zu tun, dass es mein langes Leben lang doch ganz gut so funktioniert hat; und vielleicht sind es auch noch ein paar restprotestantische Schlacken jener Überzeugung, alle möglichen Pflichten erfüllen zu müssen und sich bloß keinen sündenträchtigen Müßiggang leisten zu dürfen. Oder womöglich ist das auch eine Wirkung jener unser „modernes Leben“ prägenden Hektik, diese Vergötzung des Immer-schneller-immer-noch-mehr. Alles zusammen wahrscheinlich.
Und wenn! MODERARE LA VELOCITÀ: diese Devise will ich mir immer neu und fest vornehmen. In Italien wurde ja auch diese schöne Idee entwickelt mit dem genuin lateinischen Namen „Slow Food“. Klar: das ist gemeint als Kontrast zum freudlosen Burger-Fast-Food, trotzdem hätte mir so was wie „Mangia’ con calma“ besser gefallen. Und außerdem: schließlich lebe ich ja im Adagio und nicht etwa im „Prestissimo con brio“.
Schon eigenartig, dass mich ein banales Verkehrsschild daran erinnern muss…
- Juni 2009