„Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht!“ Lisas angenehm freundliche Stimme lässt die Frage gar nicht erst aufkommen, ob diese Feststellung nicht viel zu dramatisch ist. Was ist denn meine Bestimmung? Und wer hat diesen Ort hier dazu bestimmt? Lisa kann dazu nichts mehr sagen, selbst wenn sie wollte; Silvia hat sie abgeschaltet und sie muss im Auto zurückbleiben. Das steht auf dem großen Parkplatz des kleinen Dorfes San Leo (Ganz in der Nähe von San Marino) immerhin schön im Schatten, was für Lisa vermutlich ohne Bedeutung ist – Lisa ist die weibliche Stimme des mobilen Streckenortungsgerätes, richtig: GPS sagt der moderne Mensch ganz lässig dazu.
Ein sonnig-schöner, gar nicht heißer Tag Ende August 2008 erleichtert uns dreien, Silvia, Andreas und mir, den steilen Aufstieg zur berühmten Fortezza, der Festung, auf dem nach drei Seiten senkrecht abfallenden bizarren Felsen. Für zwei Stunden werden wir nun gleich die Gegenwart verlassen, mit GPS und Endlos-Stau auf der A 14, RAI 3 und DLF und Bush, Beck und Benedetto 16, um uns einzulassen auf gefällig aufbereitetes Mittelalter.
Als erstes beeindruckt die kaum wirklich nachvollziehbare Leistung derer, die das hier gebaut haben. Kühn schon die Planung der zu ihrer Zeit sehr berühmten Architekten Francesco di Giorgio Martini und, 300 Jahre später, Guiseppe Valadier. Nicht überliefert, wie immer, auch nur ein einziger Name derer, die solche Pläne dann ausführen mussten, Stein für Stein, bei jedem Wetter, ohne Betonmischer, Traktoren, Lastkraftwagen und elektrische Aufzüge. Beim Blick von dem ersten großen Platz zwischen den beiden gewaltigen Türmen kann man sich gut vorstellen, wie sicher sich die Insassen hier oben gefühlt haben müssen, weil aufgehoben an einem uneinnehmbaren Ort. Schwer vorstellbar, dass genau das, die Eroberung der Festung, dann doch stattfand, mehrmals sogar, etwa nach zwei Jahren Belagerung durch Otto I. von Sachsen (im Jahr 963) oder, 1502, durch den Herzog Valentino (nebenbei: ein Sohn des Papstes).
Beim Gang durch die Ausstellung auf den verschiedenen Etagen der Anlage beeindruckt (und bedrückt) mich, viel mehr als die unzähligen Lanzen, Rüstungen, Pistolen, Armbrüste, Flinten und all das andere Militärgerät, die fast liebe- und lustvoll gestaltete Dokumentation dessen, was im Dienste der Heiligen Inquisition so alles unternommen wurde, zur Wahrung des einzig richtigen Glaubens an den barmherzigen, gnädigen Herrn des Himmels mit seiner unendlichen Liebe zu uns schwachen, fehlbaren Menschen. Im Wortsinn atemberaubend ist die Phantasie, mit der die raffiniertesten Instrumente erdacht und gefertigt wurden und auch angewandt, mit dem einzigen Ziel, immer noch mehr, noch länger anhaltende, noch entwürdigendere Schmerzen zu verursachen. Beim Betrachten eines zeitlos formschönen massiven Folter- und Verhörstuhles schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass wir es doch wirklich sehr weit gebracht haben, auf dem Gebiet fortschreitender Menschlichkeit, in den letzten drei, vier Jahrhunderten: der elektrische Stuhl in den höchstentwickelten USA hat auf seiner Sitzfläche natürlich längst nicht mehr diese zahlreichen fünf Zentimeter hochstehenden, rostigen Eisenspitzen in Pyramidenform mehr! Und Abu Ghraib und Guantánamo entsprechen doch – das wissen wir ja – genau den humanen Standards angemessener Behandlung von Terroristen und anderen Schwerverbrechern mit völlig falschem Glauben und der total fehlenden Bereitschaft, vorhandene Bodenschätze jenen zu überlassen, die das eigentliche Grundrecht darauf haben, leider aber immer noch Kriege führen müssen, um das Recht (und das Öl) dann auch zu bekommen.
Zurück nach San Leo. Lang ist die Liste der Berühmtheiten, die hier waren: Franz von Assisi hat hier gepredigt; Dante fand den Stoff für Teile seiner Göttlichen Komödie; der republikanische Freiheitskämpfer Felice Orsini, Cesare Borgia, Lorenzo de Medici und viele andere der Herzöge des unweit gelegenen Urbino. Der bekannteste Besucher, und offenbar auch im Gedächtnis der Bevölkerung bis heute noch lebendige, war Guiseppe Balsamo, besser bekannt als selbsternannter Graf Alessandro von Cagliostro, beschrieben als Wunderheiler, Zauberer, Alchimist, Wahrsager, Gründer von Freimaurersekten, Großbetrüger, Hochstapler. Eine Figur wie es sie heute nicht mehr gibt; man müsste etwa Berlusconi und Baghwan, Gunter Sachs, Klaus Kinski und Uri Geller zusammenrühren, um daraus eine vergleichbare Person zu destillieren. Die dann heute ständig unterwegs wäre, weltweit, zwischen Fernsehstudios und Fußballstadien, Galadiners und Benefizkonzerten, empfangen von US-Präsidenten, Bundeskanzlern und dem Papst – und nicht wie der bedauernswerte Cagliostro in einer winzigen Zelle auf diesem Felsen von San Leo eingesperrt, zu lebenslangem Kerker verurteilt von Rom, weil er eine Konkurrenz-Magie praktizierte und als Verfechter der freien Meinung dem damals herrschenden Absolutismus nicht ins Konzept passte. Wie gut hätte der Mensch es heute, im Zeitalter einer völlig freien, total unabhängigen Presse und Medienmacht, gerade auch hier in seiner Heimat Italien…!
Lauter Informationen und Eindrücke hier die meine sommersonnige Stimmung eintrüben. Auch auf den Gesichtern von Silvia und Andreas nehme ich Schatten wahr, und selbst die paar wenigen Kinder, von den Eltern auf diese Tour mitgenommen durch die endlosen, niedrigen, engen Gänge, treppauf, treppab, mit den winzigen Zellen für die Gefangenen des Vatikan und auch weiträumigen Sälen (für die Bewacher und jeweiligen Herren), auch diese Kinder wirken irgendwie unfroh, ohne zu wissen warum.
Etwas später dann hat uns die aufgeklärte Gegenwart des 21. Jahrhunderts wieder. Äonen weit weg von dem irrationalen Glauben an ein ebenso unsichtbares wie unfassbares Höheres Wesen, das unsere Reise durchs Leben bestimmt, wenn wir dem „Befiehl du deine Wege“ folgend daran glaubten. Heute und hier dagegen leitet uns die rationale Einsicht, dass Lisa – korrekt von uns programmiert – uns auf dem besten, weil kürzesten Weg zu dem Bestimmungsort Urbino führen wird. Auch wenn Lisa leider ebenfalls unfassbar und unsichtbar bleibt.
- September 2008