ITA ING DEU

Notiz 48: Mit Lisa nach San Leo

„Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht!“  Lisas angenehm freundliche Stimme lässt die Frage gar nicht erst aufkommen, ob diese Feststellung nicht viel zu dramatisch ist. Was ist denn meine Bestimmung? Und wer hat diesen Ort hier dazu bestimmt? Lisa kann dazu nichts mehr sagen, selbst wenn sie wollte; Silvia hat sie abgeschaltet und sie muss im Auto zurückbleiben. Das steht auf dem großen Parkplatz des kleinen Dorfes San Leo (Ganz in der Nähe von San Marino) immerhin schön im Schatten, was für Lisa vermutlich ohne Bedeutung ist – Lisa ist die weibliche Stimme des mobilen Streckenortungsgerätes, richtig: GPS sagt der moderne Mensch ganz lässig dazu.

 

Ein sonnig-schöner, gar nicht heißer Tag Ende August 2008 erleichtert uns dreien, Silvia, Andreas und mir, den steilen Aufstieg zur berühmten Fortezza, der Festung, auf dem nach drei Seiten senkrecht abfallenden bizarren Felsen. Für zwei Stunden werden wir nun gleich die Gegenwart verlassen, mit GPS und Endlos-Stau auf der A 14, RAI 3 und DLF und Bush, Beck und Benedetto 16, um uns einzulassen auf gefällig aufbereitetes Mittelalter.

Als erstes beeindruckt die kaum wirklich nachvollziehbare Leistung derer, die das hier gebaut haben. Kühn schon die Planung der zu ihrer Zeit sehr berühmten Architekten Francesco di Giorgio Martini und, 300 Jahre später, Guiseppe Valadier. Nicht überliefert, wie immer, auch nur ein einziger Name derer, die solche Pläne dann ausführen mussten, Stein für Stein, bei jedem Wetter, ohne Betonmischer, Traktoren, Lastkraftwagen und elektrische Aufzüge. Beim Blick von dem ersten großen Platz zwischen den beiden gewaltigen Türmen kann man sich gut vorstellen, wie sicher sich die Insassen hier oben gefühlt haben müssen, weil aufgehoben an einem uneinnehmbaren Ort. Schwer vorstellbar, dass genau das, die Eroberung der Festung, dann doch stattfand, mehrmals sogar, etwa nach zwei Jahren Belagerung durch Otto I. von Sachsen (im Jahr 963) oder, 1502, durch den Herzog Valentino (nebenbei: ein Sohn des Papstes).

Beim Gang durch die Ausstellung auf den verschiedenen Etagen der Anlage beeindruckt (und bedrückt) mich, viel mehr als die unzähligen Lanzen, Rüstungen, Pistolen, Armbrüste, Flinten und all das andere Militärgerät, die fast liebe- und lustvoll gestaltete Dokumentation dessen, was im Dienste der Heiligen Inquisition so alles unternommen wurde, zur Wahrung des einzig richtigen Glaubens an den barmherzigen, gnädigen Herrn des Himmels mit seiner unendlichen Liebe zu uns schwachen, fehlbaren Menschen. Im Wortsinn atemberaubend ist die Phantasie, mit der die raffiniertesten Instrumente erdacht und gefertigt wurden und auch angewandt, mit dem einzigen Ziel, immer noch mehr, noch länger anhaltende, noch entwürdigendere Schmerzen zu verursachen. Beim Betrachten eines zeitlos formschönen massiven Folter- und Verhörstuhles schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass wir es doch wirklich sehr weit gebracht haben, auf dem Gebiet fortschreitender Menschlichkeit, in den letzten drei, vier Jahrhunderten: der elektrische Stuhl in den höchstentwickelten USA hat auf seiner Sitzfläche natürlich längst nicht mehr diese zahlreichen fünf Zentimeter hochstehenden, rostigen Eisenspitzen in Pyramidenform mehr! Und Abu Ghraib und Guantánamo entsprechen doch – das wissen wir ja – genau den humanen Standards angemessener Behandlung von Terroristen und anderen Schwerverbrechern mit völlig falschem Glauben und der total fehlenden Bereitschaft, vorhandene Bodenschätze jenen zu überlassen, die das eigentliche Grundrecht darauf haben, leider aber immer noch Kriege führen müssen, um das Recht (und das Öl) dann auch zu bekommen.

Zurück nach San Leo. Lang ist die Liste der Berühmtheiten, die hier waren: Franz von Assisi hat hier gepredigt; Dante fand den Stoff für Teile seiner Göttlichen Komödie; der republikanische Freiheitskämpfer Felice Orsini, Cesare Borgia, Lorenzo de Medici und viele andere der Herzöge des unweit gelegenen Urbino. Der bekannteste Besucher, und offenbar auch im Gedächtnis der Bevölkerung bis heute noch lebendige, war Guiseppe Balsamo, besser bekannt als selbsternannter Graf Alessandro von Cagliostro, beschrieben als Wunderheiler, Zauberer, Alchimist, Wahrsager, Gründer von Freimaurersekten, Großbetrüger, Hochstapler.  Eine Figur wie es sie heute nicht mehr gibt; man müsste etwa Berlusconi und Baghwan, Gunter Sachs, Klaus Kinski und Uri Geller zusammenrühren, um daraus eine vergleichbare Person zu destillieren. Die dann heute ständig unterwegs wäre, weltweit, zwischen Fernsehstudios und Fußballstadien, Galadiners und Benefizkonzerten, empfangen von US-Präsidenten, Bundeskanzlern und dem Papst – und nicht wie der bedauernswerte Cagliostro in einer winzigen Zelle auf diesem Felsen von San Leo eingesperrt, zu lebenslangem Kerker verurteilt von Rom, weil er eine Konkurrenz-Magie praktizierte und als Verfechter der freien Meinung dem damals herrschenden Absolutismus nicht ins Konzept passte. Wie gut hätte der Mensch es heute, im Zeitalter einer völlig freien, total unabhängigen Presse und Medienmacht, gerade auch hier in seiner Heimat Italien…!

Lauter Informationen und Eindrücke hier die meine sommersonnige Stimmung eintrüben. Auch auf den Gesichtern von Silvia und Andreas nehme ich Schatten wahr, und selbst die paar wenigen Kinder, von den Eltern auf diese Tour mitgenommen durch die endlosen, niedrigen, engen Gänge, treppauf, treppab, mit den winzigen Zellen für die Gefangenen des Vatikan und auch weiträumigen Sälen (für die Bewacher und jeweiligen Herren), auch diese Kinder wirken irgendwie unfroh, ohne zu wissen warum.

 

Etwas später dann hat uns die aufgeklärte Gegenwart des 21. Jahrhunderts wieder. Äonen weit weg von dem irrationalen Glauben an ein ebenso unsichtbares wie unfassbares Höheres Wesen, das unsere Reise durchs Leben bestimmt, wenn wir dem „Befiehl du deine Wege“ folgend daran glaubten. Heute und hier dagegen leitet uns die rationale Einsicht, dass Lisa – korrekt von uns programmiert – uns auf dem besten, weil kürzesten Weg zu dem Bestimmungsort Urbino führen wird. Auch wenn Lisa leider ebenfalls unfassbar und unsichtbar bleibt. 

 

  1. September 2008

Notizen 47 Öl im Paradies

Heute Nacht, in einer längeren Zeit der Schlaflosigkeit (deren Ursache hier nichts zur Sache tut) schoss mir der Gedanke durch den Kopf, ob es nicht ganz wunderbar wäre, wenn unter unserem Gelände hier am Adagio ein Erdöl-Feld entdeckt würde. Das wäre doch, so dachte ich, eine zwar ziemlich ungewöhnliche, aber überaus nachhaltige Lösung der Finanzprobleme, die wir immer noch haben, trotz der sensationellen Erhöhung meiner Rente von über einem Prozent ab dem nächsten Monat; für deren Finanzierung im Haushalt unsere selbstlosen Politiker doch tatsächlich die erneute Anhebung ihrer mickrigen Diäten innerhalb eines halben Jahres noch einmal verschoben haben, was für einige von ihnen, die nicht genügend Nebeneinkünfte beziehen, den Absturz in die völlige Altersarmut bedeuten dürfte. Keine wirkliche Beruhigung verschafft uns auch die Nachfrage nach unseren Appartements. Die steigt zwar, und wir können uns eigentlich nicht beklagen. Dafür, dass wir erst im zweiten Jahr der richtigen Vermietung sind (vorher war ja noch manches hier im Bau), läuft es wirklich gut. Ja noch mehr: wir erfahren von unseren Gästen eine Zustimmung, die wir uns so in unseren kühnsten Phantasien nicht ausgemalt hatten. Gewiss: wir haben bei der Gestaltung der Räume wie auch des Geländes nach jener Devise gehandelt, die Willy Brandt auf seinem Grabstein anbringen ließ, in aller, leicht koketten Bescheidenheit: Man hat sich bemüht. Da war schon eine Anerkennung zu erwarten; nicht jedoch diese oft geradezu lyrischen Formulierungen, die Schwaben einfielen ebenso wie Norddeutschen, Kölnern wie Mecklenburgern, Österreichern wie Schweizern. Wir lesen staunend die Einträge in den Gästebüchern, freuen uns über die immer neuen Zusicherungen „Wir kommen wieder“ und die Bestätigungen unserer eigenen Gefühle, hier in den italienischen Marken ein kleines Stückchen Paradies gefunden und geschaffen zu haben. Und wenn wir dann noch, so dachte ich in dieser Nacht, zum Beispiel einen Pool hätten… man könnte weiterhin daran denken, dass… Aber eben doch nicht: unfinanzierbar. Zumal bei den auch hierzulande mächtig steigenden Preisen. Wir sind doch keine Scheiche.

So kam ich auf das Erdöl-Feld. Wenn wir das hätten, dann wäre doch… dann könnte man… dann würde – Ach, von wegen!

Dann würde zunächst einmal ein Haufen ungeladener, unerwünschter, unerfreulicher Besucher im Adagio einfallen. Bosse von Förderanlagenvertriebsfirmen und Werbeagenturen, Anlageberater, Bankmanager, die ganzen üblichen Heuschrecken eben. Und bald auch die eigentlichen Drahtzieher dahinter vom Schlage Bush, Cheney, Rumsfeld und ähnlichen, allein um das Wohl ihrer Völker bemühten Figuren. Es würde sehr schnell Streit geben, weil wir darauf bestehen würden, das sei unser Öl. Es würde einen Einmarsch der USA geben, ohne Zustimmung der UNO und vielleicht sogar gegen den Rat des jetzigen Papstes, Berlusconi würde sofort seine Truppen beisteuern ebenso wie London. Struck von der SPD würde kurz vor seiner Verrentung die stillschweigende Billigung all dessen durch die Regierung der Großen Koalition rechtfertigen mit dem Satz, die Freiheit auf deutschen Autobahnen werde auch am Monte Conero verteidigt –

Nein, es reicht! Genug! So eine blöde Idee mit dem Öl m Paradies! Außerdem: der nächste Weltkrieg, so hat vor ein paar Tagen die Zeitung Repubblica geschrieben, wird um das Wasser geführt werden. Und da sind wir doch ganz gut versorgt, mit unserem kleinen Teich, nein: großen Teich, fast schon: unserem kleinen See am Haus hier. Dank der reichhaltigen Regenfälle der letzten Wochen ist er wieder gut gefüllt, und mittels der Pumpe, die der vorausblickende Installationshandwerker Mirco uns angeraten und dann auch eingebaut hat, können wir den inzwischen angelegten Gemüsegarten ohne schlechtes Gewissen wegen vergeudeten Trinkwassers ausgiebig gießen. Und wir ernten bereits Canasta-, Romana- und Rucola-Salat, die Gewürzstauden von Basilikum über Oregano, Schnittlauch und Petersilie gedeihen prächtig und die San-Marzano-Tomaten hängen voller Tomaten, noch grün, aber Mitte Juli, so hören wir, werden sie rot und reif sein. Weitere Pflanzungen sind in Planung, eine bescheidene Autarkie ist im Werden…

Alle diese Gedanken und Überlegungen beruhigten mich. Auch für die Finanzprobleme, so sagte ich mir und drehte mich in dieser Nacht mit aufkommender Heiterkeit auf die andere Seite, wird sich bei nüchterner Betrachtung eine Lösung finden lassen. Und unmittelbar, ehe ich wieder wegdämmerte, fiel mir noch ein, dass wir ja auch (inzwischen fünf) Olivenbäume auf unserem Gelände haben. Ironischerweise also doch, cum grano salis, Öl im Paradies. Nicht für Exxon, zum Glück. Sondern ex vergine.

  1. Juni 2008

Notiz 46: Wie ich (wieder) einmal die deutsche Hauptstadt besuchte

Nein! Doch nicht Bonn! Das war auch so einer meiner größeren Irrtümer: dass ich damals dafür war, dieses von mir nie besonders geschätzte Bundesnest am Rhein zu behalten, als Hauptstadt für das so überraschend plötzlich zusammengeratene Deutschland. Wie alle meine größeren Irrtümer konnte ich diese Haltung auch überzeugend begründen, mit ein wenig Nostalgie und einer ganzen Menge an Ängsten vor dem, was das nunmehr kumulierte Deutsch-Getümel alsbald und garantiert veranstalten würde. Gegen die Großmachtambitionen der Jetzt-sind-wir-endlich-wieder-wir-Hauptstädter – so meine Befürchtung – würden sich die wenigen wirklichen Westberliner (überwiegend Schwaben) niemals korrigierend einbringen können…

Nun sitze ich im Mai 2008 auf dem „Alex“, dem Alexanderplatz, in einem Straßencafé mit Blick auf das Rote Rathaus, den Fernsehturm (Ex-DDR) und das einstmalige KDO, das CENTRUM hieß. Um das gleich vorwegzunehmen: es waren fünf schöne, angenehme, stressfreie Tage hier in dieser Stadt. Das lag außer an dem weitgehend passablen Wetter vor allem an den Freundinnen und Freunden, die ich hier traf. Auch sie, wie die Stadt insgesamt, strahlten eine ungespielte Gelassenheit aus, da war eine Normalität (nicht: Langeweile!), Alltäglichkeit (nicht: Belanglosigkeit), eine Heiterkeit (nicht: dieser früher oft so nervende, aggressive „Ballina Witz, wa!“). 

Klar: Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Otto Schily und dergl. (die mich weit mehr aufregten als die schon schlimmen 3 K – Kohl, Kinkel, ja, sogar Kanter -, weil ich es bei diesen nicht anders erwartete), diese tele-genmutierten eitlen Ex-68er also sind ja dem Volk sei Dank davongewählt worden. Nein, nein: das ist keine Alters-Demenz in mir, die sich nach Christlich-Konservativem sehnt. Aber die gegenwärtige großkoalitionäre Regierungs-Besetzung wirkt doch irgendwie unauffällig und erträglich, vor allem im Vergleich mit dieser Bande von Zwergen, die sich selbst für Giganten halten, also Bush, Putin, Sarkozy und (schon wieder mal) Berlusconi. Außerdem ist die Frau Merkel derzeit in Südamerika unterwegs, ohne Push-up-BH, vermute ich, weil es um Politik geht und nicht um Kultur; der Außensteinmeier und der Innenschäuble haben beide die Gelegenheit nicht genutzt, den Dalai-Lama-Besuch zu einem großen PR (Peking-Reizen) zu machen. Und Kurt Beck versuchte nur ein weiteres Mal vergeblich, an große Vorgänger seiner inzwischen ziemlich kleinen Partei anzuknüpfen, indem er vor der Presse das Wort Scheiß in den Mund nahm wie einst im Bundestag Helmut Schmidt. Und schließlich: mehr und mehr wird spürbar, dass sich inzwischen etwas getan hat (und weiterhin tut) in der verkarsteten deutschen Politlandschaft – die Wahlerfolge der LINKEN  bringen selbst Leute auf neue Gedanken, von denen man bislang den Eindruck hatte, dass sie eigenes Denken für überflüssigen Luxus hielten, den sie lieber ihren Freunden aus der Wirtschaft überlassen wollten..

Keine Probleme für mich also, das Regierungsviertel zu bekucken, sowohl am Samstag vom Ausflugschiff „Havelland“ aus, zusammen mit den anderen über hundert Gästen der 70.Geburtstagsparty von Freund Peter, als auch am Sonntag, bei zwei Stunden Rundfahrt und -gang mit Schwägerin Gide und Jörg, meinen Gast- und Wohnungsgebern in Kreuzberg. Am Montagnachmittag dann, als 20000 Dalai-Lama-Fans am Brandenburger Tor sich stürmisch gaben, dümpelte ich mit Freund Georg auf dessen Segelboot die Havel kreuz und quer, bei (leider) deutlich weniger Wind. Dass ich je in meinem Leben in Berlin so viel auf dem Wasser unterwegs sein würde, das hätte ich nicht gedacht. Durchaus geplant dagegen: der Besuch in Restaurants mit nichtitalienischer Küche, zur Abwechslung; peruanisch, auf Vorschlag von Norbert und Marlene, oder in einer Tapas-Bar (mit Paella!) und in der Taverne von Jannis, dem Griechen. Und nicht zu vergessen: als Abrundung der lukullischen Extras ein klassisches Spargel-Essen „zu Hause“, sozusagen.

 

Wann war ich eigentlich zum letzten Mal in Berlin? Ich musste nachschauen: es war 2004, zu einem meiner letzten Auftritte als Liedermacher. Und mein erster Auftritt in Berlin war ganz hier in der Nähe vom Alex, beim Festival des politischen Liedes der DDR 1976.

Ich schließe die Augen.

Und rieche die zweitaktsatte Luft, höre das Trabi- und Wartburg-Geknatter. Und denke daran, wie man mir von Seiten der Organisatoren damals nahe legte, bei dem großen Abschlusskonzert im Friedrichstadt-Palast auf den Vortrag meines Hits „Du lässt disch gehen, ach SPD“ zu verzichten; weil man auf Weisung des Staatsrates gerade mal wieder „Brandt-Schutz-Wochen“ habe. Obwohl ich den Rat nicht befolgte, wurde der 1974 zurückgetretene Bundeskanzler in diesem Jahr 1976 Präsident der Sozialistischen Internationale.

Auch in Westberlin (West-Berlin? Berlin-West?) bin ich ein paar Mal aufgetreten. Andere Gründe, da hin zureisen, fand ich kaum. Zu verstörend war das Bild dieser Stadt, ein Patchwork aus vielen Teilchen: Schauergeschichten und wahre Informationen vom 17. Juni und 13. August, heldische Nachkriegsgedichte und Springer-Gesülze, Biermann-Lieder und Wolfgang-Neuss-Frechheiten, „Ich-bin-ein-Berliner“-Gedöns und Schah-Empfang, Benno-Ohnesorg, APO, Kommune 1 und – unvollständige und zufällige Auswahl an Namen, mit denen sich Geschichten verbanden – Enzensberger, Christa Wolf; Dutschke; Teufel; Langhans; Pfarrer Albertz; Ulbricht; Honecker; Didi Hallervorden; Berliner Ensemble; Gisela May; Reinhard Mey; Perry Friedman; Bürgermeister Schütz; Kudamm, Hasenheide; Kreuzberg…

Und das alles so weit weg von mir, auch ganz real: stundenlanges Warten an der Staatsgrenze, lächerliche Kontrollen, ewiges Gezuckel auf kaputten Straßen durch ein Land, das nicht nur durch die auf meiner Nase festgelötete West-Brille so grau und trostlos wirkte.

Ich öffne die Augen wieder. In fünf Minuten sind 50 Jahre vorbeigejagt. Berlin ist heute, seit ich vor vier Jahren nach Italien umgesiedelt bin, rein räumlich noch viel weiter weg von meinem Leben als früher,. Es ist andererseits viel näher. Nicht nur durch die Billig-Flieger oder neue Autobahnen. Handys tüteln hier (fast) so oft wie in Senigallia. Vorm Café schieben sich statt der Trabis und Wartburgs jetzt die ebenso unverwechselbaren Kleinwagen aller Hersteller und die als SUV getarnten Turnschuhe durch die Straßen. Und ich weiß ja, dass es in dieser Stadt wie überall die dunklen Seiten und schmutzigen Winkel gibt, dass auch die jetzige Regierung wie ihre Vorgängerin die Schere weiter geöffnet hat zwischen Arm und Reich. Mir fällt ein, was in diesem Februar beim 50. Jahrestagstreffen meines Abiturs einer aus unserer Klasse zu mir gesagt hat, nämlich  was für ein Glück wir hatten, wir, die kurz vor, während oder gleich nach dem 2. Weltkrieg Geborenen, inzwischen in Rente (noch nicht zusammengestrichen zugunsten der notleidenden Großkonzerne), weitgehend gesund, rüstig, aktiv, oft noch sportlich, fröhlich, mit weißem Haar und Schnäuzer; dass  wir ein ganz anderes, so günstiges Zeitfenster zum Leben erwischt haben als – vor allen – die Generation unserer Eltern, aber – vermutlich – auch die unserer Kinder und vor allem Enkel. –

Zwei Tage später dann die Rückreise ins Adagio. Mit guten Gefühlen durch das Andante con moto dieses Berlin-Aufenthaltes und die dadurch ausgelösten Erinnerungen an früheres Allegro con brio, Scherzo, Rondo, Variationi, Finale Furioso und auch manchmal ein Largo oder Grave. Ist das alles die Folge eines Altersleidens: des durch Milde und Nachsicht getrübten Blicks auf die Wirklichkeit?

Na, und wenn…!

  1. Juni 2008

Notiz 45: Gubbio

Ich bin verrückt. 

Das haben mir zwar schon viele gesagt in meinem Leben; meine Mutter etwa, erst kopfschüttelnd nachsichtig amüsiert, später immer verzweifelter, weil wirklich davon überzeugt. Dann hörte ich es auch von Kollegen, Freunden, Frauen und weise gewordenen ehemaligen Mit-Hitzköpfen, dass sie ganz unterschiedliche Aktionen von mir, neue Vorhaben, alte Pläne oder auch bleibende Überzeugungen als einfach verrückt bewerteten.

Aber seit dem 12. April dieses Jahres 2008 habe ich das patente, ich bin sozusagen diplomiert als pazzo oder matto, als Verrückter. Für mich kam das ein bisschen überraschend, und es kam so:

 

Zur Eröffnung einer Ausstellung waren wir an diesem Samstagnachmittag nach Gubbio gefahren, etwa eine Stunde und zwanzig Minuten von unserem Haus entfernt, in den Bergen des umbrischen Apennin gelegen. Wir kannten das Städtchen nur von einem ganz kurzen Zwischenstopp auf der Reise nach Perugia vor ein paar Jahren. Und von ein paar sehr spöttischen Bemerkungen im Hinblick auf den Geisteszustand seiner Bewohner, vor allem von unseren Freunden Noris und Piero aus Pergola.

Die beiden hatten uns auch eingeladen zu dieser Vernissage mit Stoff- und Webe-Bildern von Patrizia, einer Schwester von Noris. Wir kamen so gegen halb sechs an, und schon der kurze Weg vom Parkplatz auf der Piazza 40 Martiri die steile, enge Straße hinauf zum Ort der Ausstellung in der Via Baldassini rief Begeisterung hervor. Dabei war das Wetter noch nicht einmal so, wie es bei einem Bummel durch ein italienisches Städtchen zu sein hätte, dunkle Regenwolken gaben immer mal wieder leichte Schauer ab und drohten mit mehr. Dennoch war die Schönheit zu sehen und die Atmosphäre zu spüren von diesen uralten Straßen, Mauern, Dächern, nicht nur der privaten, vor allem auch der offiziellen Gebäude, der Kirchen, der Paläste, in deren einem auch die Ausstellung aufgebaut war, zwei große Räume mit mächtigen Rundbogendecken und gewaltigen Mauern, an denen die Bilder hingen.

Zuerst standen wir mit den anderen, nach und nach eintröpfelnden Besuchern plaudernd herum – unsere Ankunft eine gute Dreiviertelstunde nach dem avisierten Beginn erwies sich einmal mehr als ängstlich-deutsche Überpünktlichkeit – und naschten von den angebotenen Häppchen und dem kräftigen Rotwein. Dann, nach der freundlichen-lockeren Eröffnungsansprache einer Freundin von Patrizia und einem weiteren Defilé vor den Werken öffnete sich ein Zeitfenster von eineinhalb Stunden bis zum gemeinsamen Abendessen im Ristorante Taverne del Lupo di Gubbio. Wir beschlossen, einen Spaziergang zu machen.

Der erste Eindruck verstärkte sich fast im Minutenabstand. Auf dem jahrhundertealten Pflaster stiegen wir steile Straßen und Treppen den Berg hoch, immer neue, ungewöhnliche, harmonische Ansichten taten sich auf, ein kleines Brückchen über die Gasse, alte, dekorative Holztüren, Durchblicke in gepflegte Innenhöfe mit mächtigen Büschen und Bäumen, dann der riesige Platz, der sich vor dem Palazzo dei Consoli öffnet und der den Blick frei gibt auf das Panorama von Häuserdächern, das Tal, auf die Reste des zweitgrößten, noch erhaltenen römischen Amphitheaters der Welt und schließlich auf die alles umrahmenden Berge des Apennin…

Aber es war nicht dieser kleine Rundgang durch Gubbio, der uns verrückt machte, obwohl wir nicht nur einmal befanden, das sei ja zum Wahnsinnigwerden schön hier, alles. Und es war auch nicht das anschließende Abendmahl, wenngleich wir auch dabei immer wieder ungläubig kopfschüttelnd Szenen miterlebten, die man sich so in Deutschland nicht vorstellen kann.

Siebzehn Gäste waren wir, platziert in einem Nebenraum des elegant eingerichteten Ristorante, an einem langen Tisch, auch hier wieder unter uralten Rundbogen, auf der edlen Tischdecke Porzellanteller, drei Gabeln links, ein Löffel oben, zwei Messer rechts, alles aus schwerem Silber, dazu farblich passende Stoffservietten. Und das Menu ein Gedicht: angefangen von den Antipasti über die fünf, sechs Primi – diverse Nudeln mit Fisch oder Fleisch, ein Pilzrisotto, ein Häppchen Linsen und alles in genau der richtigen Menge, um nicht viel zu früh satt zu sein – bis hin zu dem Secondo, Scheiben von butterzartem Filet in pikanter Sauce, dazu grüne Bohnen und Rosmarinkartoffeln, sowie schließlich, als krönender Abschluss, eine phantastische Creme Chantilly. Dazu ein leichter Weißwein, ein kräftiger Rotwein, Wasser. Und alles unauffällig-aufmerksam serviert.

Nicht an dem Essen teil nahm, auf einem Stuhl in der Ecke geduldig ausharrend, die Gitarre von Pieros Schwager Italo. Ihre Stunde schlug dann später, aber doch schon vor dem caffè und den digestivi. Italo musste nicht lange gebeten werden und begann sofort zu spielen.

Wir waren gespannt. Würde nicht, angesichts der angestimmten Lieder und überhaupt, alsbald ein Angestellter des Etablissements erscheinen? Und diskret aber bestimmt darauf hinweisen, dass man hier schließlich nicht in einer Kneipe oder unter sich sei (die anderen Räume des Ristorante hatten sich inzwischen auch längst gefüllt)? In der Tat – schon beim ersten Canzone, einem eher derben Spottlied auf Franzosen, von Italo begonnen, von fast allen Gästen fröhlich mitgesungen, kam der Ober – dunkler Anzug, rote Fliege -, der uns betreute. Kam herein, strahlte übers ganze Gesicht und – sang laut und mit einem wunderschönen Bariton mit. Kurz darauf tauchte ein weiterer Mann auf, relativ klein, etwa um die 60, im eleganten grauen Anzug, stand da, die Hände auf dem Rücken, den Unterkörper ab der Hüfte nach vorn geschoben – der Chef des Hauses. Er hörte nur zu, mild lächelnd, ein Fuß wippte im Takt, und nach dem Ende des Liedes klatschte er dezent, aber unübersehbar begeistert Beifall…

Keine Frage also, dass weiter gesungen wurde, Zurufe von Liedtiteln bestimmten das Programm, besonders in Stimmung war einmal mehr Piero, der mit seiner heiseren Stimme lauthals mitsang. Auch mir wurde zwei, drei Mal die Gitarre gereicht, für ein gewünschtes englisches oder auch mal ein deutsches Lied, und immer wieder der Ober dabei, einmal mit einer Rose in der Rechten, die er sich als Mikrophonsurrogat vor den Mund hielt, andere Gäste schauten ebenfalls herein, lächelnd, winkend – und das Ganze endete erst kurz vor Mitternacht.

Bei der Verabschiedung vor dem Ristorante dann kam irgendwann die Frage auf, ob wir, wir beiden Deutschen, denn schon „mattii di Gubbio“ seien. Nein?! Unmöglich, das müsse unbedingt passieren, und zwar sofort! In kleinen Grüppchen zogen wir dann zu dem Brunnen, Largo del Bargello. Und dort absolvierten wir die drei vorgeschriebenen Umrundungen, wurden taufgerecht mit Wasser bespritzt und laut und fröhlich beglückwünscht: damit hatten nun auch wir das „patente“, das Diplom der Bestätigung unseres Wahnsinns.

Am Tag darauf, am Sonntag, 13. April 2008, begann dann das Schauspiel, das uns einen weiteren Wahnsinn vor Augen führte, eine Verrücktheit der Art, wie sie dieses wunderschöne Land Italien auch immer mal wieder zu bieten hat: die Wahlen zum Parlament und Senat in Rom gewann diese unbegreifliche Figur, il cavaliere, Silvio Berlusconi. Nicht zum ersten Mal, wie bekannt, und diesmal sehr deutlich, vor allem im Norden, wo seine Partnerpartei „La Lega“ mächtig zulegte, dieses schwer zu fassende Konglomerat aus fremdenfeindlichen, rechtsgerichteten, separatistischen Elementen; und auch der tiefe Süden votierte mehrheitlich für den als Politclown gefährlich unterschätzten Milliardär und Medienzar, was nur heißen kann, dass er durchaus Verbindungen haben muss, nicht nur zur Loge P 2, sondern auch zu den diversen „ehrenwerten Familien“ auf Sizilien, in Neapel, in Kalabrien. Und dass nicht nur die Großindustrie auf Globalisierungskurs ist, sondern auch die Mafia, das wurde nur ein paar Tage später sichtbar in dem ersten Besucher, den dieser Berlusconi nach seinem Wahlsieg bei sich empfing – Wladimir Putin. Bei der Pressekonferenz der beiden Freunde dann die Szene, in der Il Cavaliere in der ihm eigenen „scherzhaften Art“ auf eine Journalistin, die Putin eine peinliche Frage stellte, mit deutlicher Geste ein Maschinengewehr richtete.

Wenn man es nicht schon wäre, man könnte glatt verrückt werden…

 

Im April 2008

Notiz 44: Jahreswechselmelancholie

Warum wird eigentlich immer zum Ende eines Jahres Bilanz gezogen? In diesen Wochen gibt es doch schon so genug Deprimierendes: die Tage sind die kürzesten im Jahr und zusätzlich oft grau, nebelverhangen, von Dauerregen durchweicht oder mit völlig überflüssigem Schnee garniert, der entweder zwei Tage und zweihundert Blechschäden später wieder weggetaut ist oder als dreckiggraue Masse die Straßenränder verunziert und Autofahrern und Fußgängern gleichermaßen die Laune vermiest. Außerdem fällt Weihnachten in diese Zeit, die härteste Prüfung für Familien wie für Singles, und die epidemisch anwachsende Zahl von Weihnachtsmärkten (die bald wohl schon im August anfangen werden) übt weit mehr Terror aus als sämtliche Bin-Laden-Videos und Al-Qaida-Verlautbarungen zusammen. Und zu alledem dann eben auch noch diese Bilanzen! Sowohl öffentlich (wer in diesem Jahr leider oder endlich gestorben ist, wer welches wunderschöne Tor geschossen und wer den dümmsten politischen Satz abgesondert hat) als auch privat (wer welchen kapitalen Bock geschossen hat, wessen Seitensprung wirklich völlig unvorhersehbar und welche Ausrede für einen solchen die blödeste war). Warum füllt man mit solcherlei Nachrichten nicht das Sommerloch?

Aber so st es nun mal, und es ist schon lange so, es muss wahrscheinlich einfach so sein, das ist ein Naturgesetz wie die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Reichen und Armen, weltweit und dank der Entwicklung nach der Vereinigung auch wieder in Deutschland, und ebenso unabänderlich wie die immer neuen und doch so ewig gleichen TV-Ansprachen von Bundespräsident und Kanzler(in). Da gab es doch mal diese großartige Verwechslung der Sende-Bänder, so dass 1986 Helmut Kohls Sermon vom Vorjahr wiederholt wurde, was nur durch die andere Krawatte auffiel und auch bloß seiner Sekretärin – warum führt man das nicht ganz gezielt ein: alle Jahre wieder den gleichen Text, nur mit anderem Selbstbinder oder anderem Amtsinhaber? 

 

Wie auch immer: wenn es denn offenbar sein muss, ziehe auch ich Bilanz.

Und das erste, was ich dabei feststellen muss: ich habe in den letzten Wochen dieses Jahres die falschen Bücher gelesen. Genauer: zu viele Bücher der gleichen falschen Inhalte. Man frisst ja auch nicht andauernd Paprikagulasch oder Sauerkraut mit viel zu fettem Bauchspeck in sich hinein – genau so ungesund aber habe ich gelebt, was meine geistige Nahrung betrifft. Das fing an mit „Gomorrha“ von Roberto Saviani. Ich wusste ja schon einiges über die (Un-)Art und die Macht der Mafia (oder der Camorra oder N’drangheta), aber in welchem Ausmaß diese Organisationen das alltägliche Leben in verschiedenen Regionen von Bella Italia (in diesem Fall: criminella Italia) bestimmen und wie unauflöslich verfilzt sie mit den örtlichen öffentlichen und privaten Strukturen sind – das, mi dispiace, wusste ich wirklich nicht.

Gleich danach kam dann der nächste Wälzer: „Die Schock-Strategie“ von Naomi Klein. Wieder so ein fettes Stück: Saviani brachte es auf 365 Seiten, das Werk der kanadischen Journalistin auf 763. Und was die so alles zusammengetragen hat, wusste ich ebenfalls nicht, jedenfalls nicht in dieser geballten Wucht und mit so vielen schauerlichen Einzelheiten und Zitaten und Belegen. Und die verblüffendste Folge dieser Lektüre (die übrigens kein bisschen anstrengt, weil so gut und flüssig geschrieben): wie von selbst fügen sich so viele aktuelle Meldungen und Berichte in dieses Bild eines – wie Klein es nennt – „Katastrophen-Kapitalismus“ ein. Ob das die neue Rolle des glatten Gpunkt Schröder als Gazprom-Manager ist, der schmerzhaft komische Kurs seiner revolutionären Anlegerpartei SPD, die Ankündigungen der Konzerne, durch immer neue „Freisetzungen“ von Mitarbeitern immer größere Profite anzustreben, die schamlosen Lügen, auch nur minimale Lohnerhöhungen (oder gar die Einführung von – igitt! – Mindestlöhnen) würden den Aufschwung gefährden, den doch einzig und allein die Manager bewirken, deren Gehaltssteigerungen deshalb völlig verdient und in Ordnung seien, und… und… und…

Notabene: das ist alles bekannt und öffentlich, das steht groß und breit in den Zeitungen und wird in Radio, Fernsehen und Internet verbreitet, in Talkshows belabert und in zahllosen Leserbriefen kommentiert, es ist Gegenstand von Umfragen und von Kriminalromanen (zwei davon habe ich zusätzlich auch noch verschlungen, gedacht eigentlich als Trennkost sozusagen, ja denkste: sie beschreiben das gleiche Szenario von Geldgier, mafiösen Strukturen und korrupten Politikern als Basis für die begangenen und mühsam aufgeklärten Verbrechen, mal im Triest, mal im Stockholm der Gegenwart); und es ist auch für jeden von uns, der Augen hat, zu sehen: wenn der gelangweilt auf die neue Geliebte wartende Aufsichtsratsvorsitzende im Porsche die Schlagzeile von BILD überblättert: „Schon wieder drei Kinder elend verhungert“; oder wenn eine frostviolette Greisin mit ihrer ganzen Habe im entwendeten Supermarkteinkaufswagen erschöpft vor dem Schaufenster zusammengesackt ist, in dem Armbanduhren für – Sonderangebot! – nur 38.000 Euro zum Weihnachtsfest angeboten werden.

 

Larmoyanz? Wieso denn! Ich jammere doch gar nicht! Ich bin doch nicht der Papst, der noch vor seiner Urbi-et-Orbi-Show den Leuten die gute Konsum-Stimmung vermiesen will, indem er ihnen mit Konsequenzen (im Jenseits!) droht; anstatt dem guten Beispiel der katholischen Kirche zu folgen und dem schnöden irdischen Mammon völlig zu entsagen. Ich beteilige mich auch nicht an dieser dröhnenden Debatte von gewissenswurmgeplagten SPD-Politikern, CDU-Gutchristen und Arbeitgeber-scherzbolden über irgendwie doch vielleicht ein bisschen zu hohe Managergehälter (an denen ja doch keiner was ändern kann und über die deshalb jeder so lustig herumschwadronieren darf). Ich bin auch nicht der „Gott, an den keiner mehr glaubt“ aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ von 1946 (der nur noch lauthals jammern, aber den Menschen leider auch nicht mehr helfen kann, und der den Tod beneidet, welcher der neue Gott sei, unumstößlich und fett geworden); dieser Borchert, der auch „Dann gibt es nur eins“ verfasst hat, diese verzweifelte Aufforderung „Sagt nein“ zu allem, was auf einen Krieg hinführt; was ja lange Zeit auch ernst genommen wurde, vor allem von den Alternativen, ehe  dann auch sie wie vor ihnen schon die abgeklärt denkenden Sozialisten und realistisch argumentierenden Christen die einzig wahre Einsicht übernommen haben: „Wat mutt, dat mutt“, oder, wie es einst der US-Außenminister Alexander Haig so treffend ausdrückte: „Es gibt Schlimmeres als Krieg“.

Nein, nochmals nein: ich jammere nicht. Auch nicht darüber, dass ich (auch) dieses Jahr wieder im privaten Bereich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen sich in einer nicht erwarteten Art verändert haben (oder waren sie vielleicht immer schon so und ich habe es nur – idealistisch verblendet – nicht gesehen?). Es gibt ja zum Glück, auf der anderen Wagschale, das Gegengewicht neuer Freundschaften und bleibend verlässlicher Mitmenschen. Und ich sehe Ähnliches nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich: z.B. den brasilianischen Bischof Luiz Flavio Cappio, der mit seinem Hungerstreik gegen ein gigantisches Flussumleitungsprojekt protestiert (das doch alle „vernünftigen“ Instanzen, von der es betreibenden Wirtschaft über die Regierung Lula und den Obersten Gerichtshof für notwendig und richtig halten); ich sehe wunderbare Ausstellungen und Bildbände von Kunstwerken der verschiedensten Epochen, höre Konzerte und Aufnahmen der großartigsten Musik, von Klassik bis Modern Jazz, staune über so viele Schöpfungen zeitgenössischer Architektur, und weiß das alles gefördert und überhaupt erst ermöglicht durch die Millionenspenden von Sponsoren und Mäzenen.

 

Und so fühle ich mich denn wie der Zirkusbesucher in Kafkas kurzer Erzählung „Auf der Galerie“: ich sehe die „immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft“ des brutalen und scheinbar alternativlosen Wirtschaftssystems ebenso wie die kleine Kunstreiterin, die „ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will“, und: „Da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er ohne es zu wissen.“

 

Apropos Traum – das gibt es gelegentlich auch noch, diesen Traum, dass eines Tages die vielen Millionen Menschen, immer wieder als „das Volk“ glorifiziert oder verspottet, sich zusammentun (wie es z.B. kurz vor dem Irak-Krieg 2003 weltweit geschehen ist) und diesen – wie mir scheint noch immer vorhandenen – humanistischen Defekt überwinden (den die anderen, die Oberen, die Besseren, die Tüchtigen, die Erfolgreichen nicht haben) und ernst machen mit dem Spruch, den ich ihnen schenke: „Rumsfeld, Cheney, Bush und Co – ab nach Gu-an-tá-na-mo!“ Oder: „Mehdorn, Ackermann und Pierer – endlich glücklich als Hartz-Vierer“.

Komische Bilanz, ich weiß. Aber per Saldo sage ich: es war, für mich ein positives Jahr, dieses 2007. Und so blicke ich denn auch erwartungsvoll voraus nach 2008.

 

31.12.2007