ITA ING DEU

Notiz 43: Menschen im Zug

Für mich haben sie eigens eine Pause gemacht, die streikenden Lokführer bei der Deutschen Bahn. Kein Problem also, mit der S-Bahn 13 vom Flughafen zum Hansaring zu fahren, pünktlichst ab um 18.34 Uhr und an um 18.52. Von dem Streik, der immer gewaltigere Wellen schlägt, in den deutschen Massenmedien jedenfalls, kriege ich nichts mit, noch nicht. Kann sein, dass es nächste Woche anders aussieht, wenn ich auf Züge angewiesen bin, um meine geplanten Arzttermine zu absolvieren. Mir kommt das alles ganz normal und friedlich vor hier in Köln, bei meinem letzten Besuch für dieses Jahr 2007. Nach einem Essen in meinem thailändisch-vietnamesischen Stammrestaurant um die Ecke mache ich mir noch eine Flasche „Floriano“ auf, ein Glas von diesem weichen, runden Rotwein von unserem Biowinzer in den Marken soll den Abend abrunden und über die „Tagesthemen“ hinweghelfen. Was nicht so ganz leicht ist: der „Musikantenstadl“ will überhaupt nicht aufhören, und als es dann endlich so weit ist, verkündet Moderator Buhrow weitere Katastrophen – passgenau zur Veröffentlichung des Weltklimaberichts hat der Wirbelsturm Sidr in Bangladesh anschaulich gemacht, was uns erwartet, „wenn wir so weiter machen“ (Tom Buhrow). Und alles deutet darauf hin, dass wir das tun werden. Vor zehn Jahren hab ich, in meinem Lied „Im Hamsterrad“ geschrieben: „Alles hat sich geändert, aber nichts ist wirklich neu / Alle bleiben dem Verrat an ihren Grundprinzipien treu“. Stimmt auch heute noch, und längst nicht nur bei der SPD. 

Melancholisch mache ich den Fernsehapparat aus und gehe zurück in die Küche, um mir ein weiteres Glas Floriano einzuschenken. Und da fällt mir ein, dass ich schon vor längerer Zeit etwas geschrieben habe, was ganz gut zu meiner jetzigen Stimmung passt. Dank den Gigabytes an Speicherplatz auf dem Laptop und einem inzwischen erschreckend perfekten Suchsystem finde ich den Text auch schnell, der Titel auch damals:

 

Menschen im Zug

 

Aus dem Fenster der winzigen Küche meines Einzimmer-Appartements in Köln sehe ich die Züge, die aus dem Hauptbahnhof kommen oder in ihn hineinfahren. Morgens zum Beispiel um neun Uhr herum kommt der THALYS aus Paris an. Jetzt am Abend, während ich mir einen Gemüsetopf mit Lammkoteletts zubereite, rollen klackernde Vorortzüge vorbei, moderne zweistöckige Wagen oder die alten, von Sprayern bizarr verzierten Waggons aus den Zeiten der seligen Bundesbahn. Längst ist es Nacht, jenseits der Geleise ein paar erleuchtete Zimmer, Küchen, Lagerräume. Am Himmel zieht ab und zu ein Flugzeug vorbei, im Landeanflug auf Köln/Bonn.

Manche Züge müssen draußen vor dem Hauptbahnhof warten, ehe sie einfahren dürfen. Dann steht ein Waggon vor meinem Fenster wie ein Bild von Edward Hopper. Vor dem warmen Schwarz der Geleise und der Häuser gegenüber und dem schmutziggrauen Himmel klar abgesetzte Farbflächen: vom Neonlicht in blassgrünes Licht getauchte Großraumabteile,  leuchtendrote Türen, kräftigblaue Sitze. Viele noch besetzt mit Reisenden, die nicht aussteigen werden, hier in Köln. Schlafende. Zeitung lesende. Ins Leere Starrende. Menschen ohne Kopf, der von den Fenstern abgeschnitten ist. Die hellblonde Mähne einer jungen Frau, die mir den Rücken zuwendet. Sie schaut in Fahrtrichtung, warum es nicht endlich weitergeht. Andere sind bereits in ihre dicken Jacken geschlüpft und stehen unter den Gepäcknetzen, in denen ihre Koffer liegen. Ungeduldige können es nicht erwarten, in die Arme der Geliebten geschlossen zu werden. Und wenn die – oder der – nicht auf dem Bahnsteig stehen? Es spielen sich Dramen ab, während ich die Frühlingszwiebeln schäle und in kleine Scheiben schneide. Der Zug will einfach nicht weiterfahren. Die Leuchtschrift, gelb auf tiefgrünem Grund, schickt rätselhafte Botschaften herüber: RE8 – KÖLN-DEUTZ. Aus einem Fenster weiter hinten im Waggon schaut ein Uniformierter her zu mir – der Schaffner (oder wie heißt das heute?). Er sieht, wie ich die Lammkoteletts salze und pfeffere. Oder sieht er es nicht? Ich sehe hinter ihm eine bleiche Hand, die langsam hochzieht und ihm übers Haar streicht. Eine Frau ist neben ihm aufgetaucht. Seine Frau? Nie! Die Blondine mit dem Rücken zu mir ist aufgestanden, schüttelt ihre Mähne, setzt sich verärgert wieder hin, immer noch kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Wird sie in einer haben Stunde im Bett ihres Freundes lustwimmern? Oder wartet ihr Vater auf sie, mit der traurigen Nachricht, dass es nun doch Brustkrebs ist, bei Mama? Es ist bitter kalt an diesem 4. März 2005. In meiner Wohnung ist es warm. Das Essen ist in wenigen Minuten gar. Ich öffne eine Flasche Merlot von Ernesto & Julio Gallo, California. 

Der Zug erhält Einfahrt in den Hauptbahnhof, er verschwindet, die dunklen Geleise warten auf den nächsten.

Auf WDR 3 wird ein Konzert armenischer Musiker übertragen.

Der Bundeskanzler ist auf seiner Nahostreise heute in Abu Dhabi angekommen.

 

Das war vor zweieinhalb Jahren. Heute haben wir eine Kanzlerin statt dem Basta-Schröder. Und ich habe einen „Floriano“ statt einem Merlot im Glas. Na denn: buona notte!

  1. November 2007

Notiz 42: Sprachlos

Dass ich schnell die Nase voll hatte, wenn ich mal wieder nach Deutschland hinüber gereist war, ist ein schon etwas abgenutzter Scherz. Dieses Mal aber war es noch (melo-)dramatischer: nach etwa einer Woche verschlug es mir die Sprache. Ich brachte keinen Ton mehr heraus. Und dabei hatte ich eigentlich gar nichts zu meckern: das Wetter, von dem inzwischen nicht nur alle, sondern auch wir reden, war so schön wie bei uns in Italien; auf den deutschen Autobahnen wurde ich trotz des lahmen Twingo um mich herum nur selten sittenlos bedrängt; die Kanzlerin war nach New York entschwunden; mein Fernsehapparat ließ sich nicht einschalten; und bei einem Elektronikwarensupersupermarkt kriegte ich das allerletzte noch vorhandene Autoradio mit Musikkassettenteil (welches in meinem alten Gerät kaputt war) – für 9,99 Euro! Worüber also hätte ich, bitteschön, schimpfen sollen?

Überhaupt: ich bemerke seit einiger Zeit, dass ich mich in einer Art Erich-Kästner-Invers-Situation befinde: die Frage, nicht in Briefen, sondern direkt gestellt, lautet immer öfter „Mein Herr, wo bleibt das Negative?“ Und zwar vor allem, wenn ich über mein neues Leben in den Marken rede. Vielleicht hat das mich sprachlos gemacht. Nicht, dass mir nichts einfiele, wenn es um Negatives geht, in Italien, in den Marken, an meinem Wohnort. Ich bin ja nicht blind und nicht blöd. Aber das Positive überwiegt einfach, so stark, dass ich zum Reden über das andere meist gar nicht mehr komme. Einfach aus Zeitmangel!

Das ist komischerweise genau andersrum als früher. Da wusste ich natürlich auch, dass es in Deutschland, in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen, an meinen jeweiligen Wohnorten auch Gutes und Schönes gab. Aber ich kam nicht dazu, darüber zu reden, weil das andere so stark überwog. Und die Kästner-Frage, wo denn das Positive bleibe, hab ich immer wieder gehört, ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen aus der Satirikerzunft auch. Manchmal hab ich mich ein bisschen gewundert über die Menschen, die das fragten. So uneingeschränkt positiv eingestellt wie sie taten kannte ich sie eigentlich gar nicht. Sie waren ja denkende Menschen und sie sahen die gleichen Dinge, die ich auch sah, nur dass sie sie vielleicht nicht ganz so negativ beurteilten wie ich. Nur: so wie sie mich damals inquisitionierten, kam es mir vor, als betrachteten sie mich und meine Sicht der Dinge als unnachvollziehbar einseitig, ungerecht, blind für jede Art von Realität.

Und heute beobachte ich das Gleiche – nur mit umgekehrtem Vorzeichen, sozusagen.

Meine Sprachlosigkeit hatte also – das ist hoffentlich klar, inzwischen – ganz banale, natürlich Ursachen: es regnete unaufhörlich aus einem bleibend trübtiefgrauen Himmel, es war ziemlich kalt, ich hatte mich weder mental noch kleidungsmäßig darauf eingestellt. Kurz: ich hatte mich schwer erkältet. Nun, und für das Wetter kann bekanntlich kein Mensch etwas. Die Klima-Katastrophe beschert uns der Herr des Himmels, welcher in den letzten Jahrzehnten irgendwas gegen uns zu haben scheint, der Himmel weiß warum. Wir Menschen können da nichts dran ändern. Zum Beispiel hätten wir Deutschen doch schon längst ein Tempolimit auf den Autobahnen eingeführt, wenn das etwas bringen würde, für das Klima. Und wir hätten ja auch längst… –

Äh, Moment – ich spüre auf einmal so ein merkwürdiges Kribbeln im Hals. Genauer gesagt: ein mentales Kribbeln. Weil: inzwischen sitze ich wieder in Senigallia im Café, in der wunderschön frühherbstlich milden Sonne, bei 24 Grad, also kein Grund weit und breit für eine Erkältung. Aber ich habe dennoch das Gefühl, ich sollte jetzt nichts weiter sagen. Auch nicht auf die erneut unüberhörbare Frage, wo – zum Teufel! – denn das Negative bleibe.

  1. Oktober 2007

Notiz 41: Ein verschmerzbarer Verlust

Wer verliert schon gerne… Ich auch nicht. Und selbst wenn ich sehr viel Zeit habe, zurzeit – auch Zeit verlieren will ich trotzdem nicht. Genau deshalb lande ich heute, an diesem 23. August 2007, in der Osteria del Tempo Perso (Gastwirtschaft zur verlorenen Zeit) in Senigallia. Weil nämlich in anderthalb Stunden ein weiteres, vielversprechendes Open-Air-Konzert beginnt und weil ich hier im Zentrum von Senigallia sonst kein Restaurant kenne und weil die Pizzeria gleich hier um die Ecke voll ist bis auf den letzten Hocker; und weil ich hier in der Nähe einen sehr günstigen Parkplatz gefunden habe.

Nun bin ich ja – zur Verwunderung mehrerer Freundinnen und Freunde – seit meinem Umzug hierher so pro-italienisch geworden wie ich in meinen naivsten Zeiten kaum pro-amerikanisch war. Da muss dann also schon was passieren, um mich ungehalten zu machen. Hier passiert es. Um das gleich zu sagen: Zeit verliere ich nicht hier, die Getränke und das bestellte Essen kommen ziemlich zügig, schließlich sind außer mir auch kaum andere Gäste in dem Gartenbereich des Lokals. Aber ich verliere ein Stück Lebensqualität, auf die ich Anspruch zu haben meine. Was die Sache nicht einfacher macht: ich hätte das wissen müssen. Ich habe nämlich in diesem Schuppen hier schon gegessen. Vor vier Jahren etwa und damals gar nicht mal so schlecht, wenn ich das nicht in der Rückschau verkläre; aber dann, vor vielleicht anderthalb Jahren noch mal, und das war überhaupt nicht gut, leider. Diese Erfahrung hätte mich unbedingt daran hindern müssen, hier Platz zu nehmen. Und jetzt dieses eben angekommene Amuse Gueule zu probieren. Um festzustellen, dass es genau so schmeckt wie es aussieht: graugrüner Pappkarton in Form einer Muschel mit einem bleichen Mayo-Dip. Nicht nur meine Gueule ist not amused. Und es geht weiter so. Das Brot, für den Coperto-Preis von 2 Euro, ist hart und trocken, die Rosmarinstangen fad und bröselig. Immerhin ist das Wasser offenbar tatsächlich naturale und der Rotwein längst nicht so sauer wie der gemischte Salat, der eine Überdosis Balsamico-Verschnitt erwischt hat. Da fällt nicht weiter auf, dass der Pfeffer darin fehlt. Im Vergleich mit alledem ist die Tagliata eine echte Überraschung: man kann sie essen! Besonders wenn man die überflüssigen Grobsalzkörner von den schmalen Fleischstreifen schiebt. Aber teuer, das alles! Für das gleiche Geld – 27 Euro – essen wir sonst zu zweit in unserer Stamm-Pizzeria in Ripe. 

In Ripe allerdings findet auch kein SUMMER JAMBOREE statt wie hier in Senigallia. Mit einer Woche voller Events, dass es nur so scheppert, im wahrsten Sinn des Wortes. Oldies in jeder denkbaren Variante toben sich aus – auf Bühnen, an zahllosen Ständen, unter Zeltlingen, in Kneipen, in Discos, auf Straßen und Plätzen; auch auf Parkplätzen: zahllose Oldtimer lassen Senigallia hier aussehen wie Havanna… Rock’n’roll frisch vom Fass, das hier Abend für Abend aufgemacht wird, an 17 verschiedenen Spielorten, von Live-Bands mit so vielversprechenden (und es meist auch haltenden) Namen wie Hellcats (aus Italien), The Revolutionaires (United Kingdom), The Fabulous Harmonaires (USA) und der Rock-Legende Jerry Lee Lewis höchstpersönlich. Und dann auch von the world’s hottest djs. Auch diese Brigade international, sogar Deutschland ist vertreten, beide Teile, wie ich vermute: da ist die „Heidi“ einerseits und ein „Staatsrat“ andererseits zu genießen.

Und heute also, ab kurz nach 22 Uhr, das Abbey Town Orchestra, eine Big Band mit 22 Musikern, auf der Hauptbühne am Foro Annonario. Auch das Wetter spielt mit, nach heftigen Gewittern heute Nachmittag hängt jetzt der Mond friedlich und schräg am Himmel, halb voll. So wie meine Zufriedenheit mit dem hier Gebotenen. Die Band und ihre Arrangements: große Klasse; die Sängerinnen und Sänger eher Regionalliga. Ein ungetrübter Genuss jedoch: das Publikum. Der Platz schließlich voll, viele Oldies, die den Oldies auf der Bühne fußwippend lauschen, dazwischen immer wieder tanzende Paare, Teenies und Twens, und die in einem Outfit, dass ich mir jünger vorkomme als ich in den 60er Jahren war: Schmalzlocken, Matrosenanzug mit Käppi, die Frauen mit hochgesteckten Haaren und Busen, viele mit Lindes-Kaffee-Röcken: diesen so apart gepunkteten Stoffen, und rockend und rollend wie einst.

Als dann, so gegen Mitternacht, eine Pause auf der Bühne ein- und der DJ Terry Elliot (UK) nach vorn ans Mikro tritt, dieser Mensch im roten Anzug, der mich schon am Anfang, vor der Big Band genervt hat, weil er mich so an den Herrn Scholl-Latour erinnert, auch vom Temperament her (nichts gegen denselben, als nörgelndes Highlight in der Talkrunde von Sabine Christiansen; aber doch nicht als DJ bei einem Jamboree…!) – also da komme ich wieder auf den Anfang des Abends zurück: ich denke, hier habe ich nichts mehr verloren. Nach der gebrüllten Verabschiedung von den Freunden, die ich hier traf (Lautsprecher werden hier immer bis zum äußersten Anschlag aufgedreht), und auf der Fahrt zu einem (vorzüglichen) Glas Rotwein zu Hause dann noch ein paar Gedanken zum Thema Verlorenheit. Es wird ja überall und ständig etwas verloren. Viel mehr als gefunden, das zeigt ein Blick in die Zeitungsrubrik unter dieser Doppelüberschrift. Verloren werden: Geldbeutel; Wetten; Schirme; Fußballspiele; Eier; die Geduld; mein Herz (gerne in Heidelberg); Autoschlüssel; die Beherrschung; Kriege; der Überblick; gute Freunde und liebe Großmütter; das Gedächtnis; und zuletzt auch noch das Leben…

Dies alles erwägend erkenne ich, dass ich heute Abend im Grunde wieder gut davongekommen bin. Den Verlust der Hälfte von 27 Euro (die andere Hälfte hätte ich sicher sowieso ausgegeben, fürs Abendessen) und die Einbuße von ein wenig Lebensqualität durch ein schlechtes Restaurant und ebensolche Sänger sind ja doch irgendwie marginal und somit verschmerzbar. Wahrlich kein Grund, darüber auch nur noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren.

 

  1. August 2007

Notiz 40: Una festa sui prati

Als ob er dabei gewesen, an diesem 28. Juli 2007, auf der Wiese vorm Adagio: Adriano Celentanos Hit Una festa sui prati ist so etwas wie eine Kurzbeschreibung dessen, was sich da abgespielt hat. Wir waren 33, und wenn ich die Menschen dazurechne, die mit glaubhaft tiefem Bedauern ihre geplante und zum Teil schon konkretisierte Teilnahme dann doch noch absagen mussten, wären wir 68 gewesen… Auch das also passend zu dem Motto, auf ein Bett-Tuch gesprayt und am Haus aufgehängt: 

 

VV `68 lebt!

Alla riscossa! (1)

 

Die Wiese vorm Haus zusätzlich dekoriert mit den Fotos von Che Guevara, aus einem italienischen Wandkalender für dieses Jahr, auf unterschiedlich lange Schilfstecken montiert. Und – weil vier Jahrzehnte an keinem und keiner ganz spurlos vorüber gehen – Stühle und Bänke und Tische, niemand muss auch heute das Sit-in auf dem Boden durchstehen…

Der Anfang des Ganzen: im Januar 2007 meine Schnapsidee (nun, eher wohl vom Rotwein erzeugt), nicht den nächsten runden Geburtstag zu feiern, sondern, als Alt-68er, eben diesen. Eine Einladung, in der Form einer Flugblatt-Parodie jener Jahre, bringt überraschend schnell und von erstaunlich vielen Empfängern begeisterte Zustimmung und auch schon erste Zusagen. Rotwein, das sehe ich einmal mehr, überzeugt eben einfach.

Beim Fest selbst wird allerdings mehr Weißwein getrunken, klar: im wunderschönen Hochsommer in Italien. Und weil ich in dieser AN Namen nennen will (weil ich nur Positives zu erzählen habe), sei auch der Wein benannt: VERDE CA’ RUPTAE, ein bemerkenswerter Verdicchio, was wiederum der vermutlich bekannteste der typischen Weine der Marken ist. Aus den Marken auch alle Italienerinnen und Italiener bei dem Fest. Halt, nein: Peter lebt zwar hier, der polyglotte Kosmopolit ist aber gebürtiger Ungar. Mit seiner Klugheit, Lebenserfahrung und hohem Witzniveau bereichert er auch diesen Abend, wie so viele andere, die wir mit ihm erlebt haben. Aus ähnlichen Motiven wie ich – Menschen zusammenzubringen, die um sich greifende, zerstörerische Isolation zu durchbrechen – hat Peter vor kurzem ein Kulturprojekt ganz hier in der Nähe gestartet.

Peter ist außerdem der beste Freund von Pico. Was etwas heißt, wenn man mitkriegt, wen Pico so alles kennt. Pico: unser Italienischlehrer (mit Strenge und Witz und auch mit Erfolg); hingebungsvoller Grundschullehrer, weil er als Bildhauer mit seinen Skulpturen zu wenig verdienen kann, um nicht nur sich selbst zu ernähren, sondern auch seine Mutter und seine Tante zu unterstützen, beide um die 80, in kleiner Wohnung zusammen lebend, für die er regelmäßig kocht und mit denen er fast jeden Sonntag zu Mittag isst. Ein Gang mit Pico durch Senigallias schönes Centro Storico, ein caffè mit ihm im DORIA, ein Drink in der Bar am Foro – immer wieder unterbrochen durch ein fröhliches “Ciao Pico!“, ein paar gewechselte Sätze, getauschte Informationen und Scherze. 

Piero und Noris allerdings, die vor kurzem ihre Agentur als Häusermakler zugemacht haben, kannte Pico nicht. Gut, die beiden kommen auch aus Pergola, das ist fast 50 km von Senigallia entfernt. Andererseits kennen und lieben und schmettern Piero und Noris die gleichen Lieder wie Pico. Beziehungsweise wie offenbar alle Italiener. So viel gesungen wie an diesem Abend wurde im Adagio und auf dessen Wiese davor schon lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals. Schließlich war es das Haus von Bauern gewesen, und die sangen zwar sicher auch gern, hatten angesichts ihres harten Lebens aber wohl selten so viel Zeit dafür wie wir.

Apropos Zeit: das Ganze endete am Sonntagmorgen gegen sieben Uhr mit einem Frühstück des noch wachen harten Kerns – 3 P & I, Pico, Peter, Peggy plus Ingelis. Vermutlich auch für alle vier eine Premiere: wann frühstückt ein Mensch wohl sonst kalte Porchetta (zarten Schweinebraten), Tabuleh und kubanischen Rum (genau: Havana Club). Übrig geblieben vom Buffet am Abend.

Die Verpflegungsfrage übrigens nahm größeren Raum ein in der Planung und Vorbereitung des Festes: oh nein, nicht alle 68er waren damals reine Spontis, und inzwischen wissen auch die ein Minimum an hilfreicher Organisation zu schätzen. Im Adagio ist das die Domäne von Ingelis, und von ihr souverän gemeistert trotz eigenem Stress mit dem entstehenden neuen Film für den WDR. Das trotz gewisser ideologischer Bedenken ernsthaft erwogene „Catering“ verlor schließlich das Rennen. Zu groß die Zahl derer, die nicht nur kochend beitragen wollten, sondern auch konnten (ein kleiner Dämpfer, mit ungespielter Gelassenheit weggesteckt, für meine Einschätzung, unersetzbar zu sein, wenigstens am Herd…). Und so zauberten Peggy und Gela, aus Bonn hierher gekommen, zurückgreifend auf den reichen Fundus an Erfahrungen zwischen China und Bolivien, Albondingas (Fleischbällchen) und Tomaten-Zwiebel-Salat und Avocadocreme mit Erdbeeren. Wilfried, mit Freund Francisco aus Madrid angereist, erarbeitete (angesichts fehlender Werkzeuge wirklich eine Arbeit) eine Gazpacho, die allseits Lobeshymnen erntete, zu Recht. Daniela aus Frankfurt und ihre Tochter Alice, die italienischsten unter unseren deutschen Freunden, sprachsprudelnd, respektlos, witzsprühend schon die Tage zuvor, schoben unermüdlich und unaufgeregt plaudernd eine um die andere Tarte in den Ofen, mit diversen delikaten Belägen, machten quasi nebenbei das Tabuleh und reichlich Tiramisu. Der 16jährige Luca, Alices Bruder, montierte währenddessen lieber die Che-Guevara-Deko. Sophie und Brigitte brachten Sardinen mit und Kartoffelsalat, unsere Nachbarn Irena und Renè ein Caprese, obwohl beide erst am gleichen Tag angereist (er mit dem Motorrad, aus Heidelberg-Eppelheim, knappe 1000 km!), nach harten Wochen der Arbeit als Übersetzer.

Die stärkste Delegation des Abends stellte übrigens Berlin: 6 Teilnehmer. Vier davon, Gide & Jörg und Elke & Georg, waren über Rom angereist. Sie gaben auch die einzige ausgearbeitete Darbietung zum Besten, auf der Basis des Beatle-Songs Do you want to know a secret. Aber noch weit mehr: Gide, mit unerschöpflichem Reservoir an deutschen, spanischen, englischen Liedern und Songs, sorgte mit dafür, dass musikalisch die Internationale präsent war, auch wenn die selbst nicht angestimmt wurde; und somit ein gewisses Gegengewicht zu den italienischer Canzoni. Die rote Fahne übrigens flatterte kurzzeitig dennoch in den milden Hochsommerhimmel mit dem fast vollen Mond und immer neuen Sternschnuppen, musikalisch jedenfalls, als „Bandiera rossa“; in dieser den ganzen Abend durchziehenden Mischung aus Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung unterstützt durch ein historisches, tiefrotes T-Shirt aus der verblichenen Sowjetunion (Aufdruck: CCCP) und einem Veteranenkäppi voller Orden und Ehrenzeichen, das Piero von seinem Schwager ausgeliehen und mir zur vorübergehenden Nutzung überlassen hatte. Avanti popolo, alla riscossa…!

Russische Töne ganz anderer Art dann, als Pico lautstark befand – so gegen elf Uhr am Abend muss das gewesen sein – , nun müsse ein Lied gesungen werden, allein für Emely, die 7jährige Tochter unserer Gäste im Blauen Appartement, heute angekommen, die unsere Einladung mitzufeiern angenommen hatten. Der Vorschlag kommt von jenem Pico, den so manche (und nicht bloß Deutsche) als Egozentriker und reinen Selbstdarsteller ablehnt, weil er jedes, auch noch so kleine Treffen in eine Pico-Show zwinge. Eine – wie ich inzwischen sicher bin – ebenso unzutreffende Verkürzung (was haben wir schon an ernsthaften Gesprächen und Debatten über alle möglichen Themen gehabt!) wie sie auch andererseits Pico unterläuft, wenn er einen ruhig dasitzenden, nicht andauernd lachexplodierenden Deutschen als verknöchert, humorlos und uninteressant einstuft…

Eben war es noch laut und lärmend und gelächterschwer gewesen auf der Wiese, aber als ich dann mit der Gitarre zu Emely hinübergehe, die auf dem Schoß ihrer Mutter dem Treiben mit großen Augen folgt, ist es auf einmal ganz still, und mit leise gezupfter Begleitung singe ich das Lied, das ich als Junge gelernt, immer geliebt und auch meinen Kindern so oft vorgesungen habe: Sieh, der Mann im Monde hütet seine Kuh… bajuschki baju…

Dann wieder italienische Töne. Noris, fröhlich wie selten und das nach kürzlichem schwerem Verkehrsunfall, stimmt La Lega an: Se ben che siamo donne, paura non abbiamo… Paola, unsere intelligente und elegante Freundin (das versprochene Mao-T-Shirt hat sie nicht mehr gefunden, oder es passt irgendwie doch nicht so richtig zu den flotten High Heels) stimmt händeklatschend ein. Liliana, ebenfalls über die 50 hinaus, was auch ihr keiner ansieht, löst sich von ihrem Freund Vittorio und trällert mit. Am „italienischen Tisch-Ende“ (Peter hatte schon bald die getrennten Tische zu einer langen Tafel zusammengeführt) auch Uschi aus Rosenheim mit Volker – der einzige, den ich noch aus jenen 68er-Zeiten kenne, aus München, wo wir studierten, oder Schnaitsee, wo wir mit anderen einen leer stehenden Bauernhof gemietet hatten. Und mitten drin vor allem Norbert, ebenfalls aus Berlin gekommen (über Venedig), mit seiner Frau Marlene. Die eher still und verhalten beobachtet und goutiert, während es Norbert, mit sonorem Bass und seinen Erfahrungen aus dem Chor der Deutschen Welle (wo ich ihn in den 90er Jahren als Redakteur und Abnehmer meiner Glossen kennen und schätzen lernte), immer wieder dorthin zieht, wo ein weiteres Lied angestimmt wird, das er selbstverständlich auch kennt.

Eher ruhig dagegen Sophie und Brigitte, unsere hier in den Marken gewonnenen, spannenden Freundinnen aus der Welt des Theaters (in vieler Hinsicht). Die Weite des Wiesenraumes gestattet auch Gespräche, Unterhaltungen, Diskussionen, abseits des Trubels den die „italienische squadra“ erzeugt. Ein bisschen dazwischen auch Ulla und Jochen aus Köln, die einen Umweg von hunderten von Kilometern auf der Reise in ihr eigenes Haus in Perinaldo an der Riviera nicht gescheut haben, um hier dabei zu sein. Oder Susanne und Uwe, aus München gekommen, und hier eine ganz andere Wies’n miterlebend als im Oktober in Stoibercity.

Una festa sui prati. Nuova festa. Gutes Essen. Buon Vino. Un sacco di risate: immer wieder branden die Wellen von Lachen auf. Dass – anders als Celentano singt – morgen nicht für alle der Wettkampf neu beginnt, die Schlacht ums Geld, in der wir alle Konkurrenten sind und uns hassen müssen – dass das nicht so ist, zumindest nicht für alle von uns, das liegt am Alter: viele sind schon in Pension… 

Andererseits: beim erneuten Lesen des Liedes durchzuckt mich eine kleine Irritation. Was Adriano Celentano so positiv beschreibt, zum Schluss: dass es – nach einem erneuten Fest sui prati – dann nur noch den gara dell’amore geben werde, den Wettkampf der Liebe, ein ganzes Leben lang, das stimmt mich nicht nur und rundum heiter. Auch auf diesem Feld, dem privaten, gibt es ja wahre Schlachten und so manches Blutbad, oft genug im Sinn des Wortes. Aber diesen Wermutstropfen habe ich – wie einen oder zwei weitere – in eine separate Flasche gefüllt und diese weit hinten in der Cantina abgestellt. Sie wegzuschmeißen hat keinen Sinn, ihr Inhalt lässt sich nicht vernichten oder elegant entsorgen. Aber ich muss diese Flasche ja nicht heute aufmachen, nicht hier und jetzt, wenn ich erzähle von dieser festa sui prati. Lieber denke ich an das Lied aus dem Jahr 1848 (!): Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – unser die Welt, trotz alledem

Che bella giornata…!

9.8.2007

 

(1) VV = Das italienische „Es lebe…!“ – „Viva“, die beiden Vs oft ineinander verschlungen, so dass es wie ein „W“ aussieht. Und „alla riscossa“, aus dem Lied „Bandiera rossa“, heißt, laut Wörterbuch, „Rückeroberung“

Notiz 39: Geschafft

Endlich – und auch für uns ein bisschen überraschend, weil erfreulich nahe am Zeitplan – ist es geschafft: das dritte (das blaue Appartement) wartet wie bisher schon das rote und das gelbe auf Gäste im Adagio. Grund genug für eine neue AdagioNotiz, und wieder eine (Zwischen-)Bilanz.

Eine Erkenntnis: das Adagio ist wie der Kölner Dom – der wird auch bekanntlich nie ganz fertig (womit die Gemeinsamkeiten allerdings schon aufhören). Erstaunlich: bei all dem Stress, den dieser Ausbau mit sich brachte, trotz aller Vor-Erfahrungen, die zwar so manche, aber eben doch nicht alle Probleme, Schwierigkeiten, Unmöglichkeiten, Widerstände, Fehler, Verzweiflungen und Auseinandersetzungen erwarten ließen und auch zu lösen halfen, war auch wieder viel Spaß dabei, Zufriedenheit mit erreichten Fortschritten, Stolz auf gefundene Auswege, Begeisterung über Aufmunterungen und immer wieder neue Kreativitätsschübe. Das sprichwörtliche Lichtlein kam irgendwo her bei dem immer wieder unvermeidlich auftauchenden Gedanken, es gehe nicht (mehr). Bestätigung auch: die Entscheidung war richtig, den Lebensabend (vielleicht auch: den –spätnachmittag) hier zu verbringen. Angesichts der Informationen aus Süddeutscher Zeitung und Internet über das, was sich so abspielt in der Bush-Welt mit ihren Dschungelgesetzen und auch in diesem merk(el)würdigen Deutschland erscheint das Fleckchen Erde hier in den Marken als Relativ-Paradies. Notabene: dies ist eine subjektive Feststellung. Ich treffe sie für mich allein. Durch bittere Erfahrungen geheilt von meinen verschiedenen einstigen Missionarreteien denke und fühle ich heute transliberal: noch nicht einmal die Einsicht, dass am besten jeder nach seiner Fasson selig werden möge, versuche ich anderen aufzunötigen.

Geschafft allerdings ist nicht nur die Gestaltung des blauen Appartements, sondern bin auch ich. Runterschalten, Zu-mir-kommen, mich erholen, (wieder) nach der Devise leben „sempre con calma“, die Schönheit von Haus, Landschaft und Land, das gemeinsame Essen und Trinken mit Freundinnen und Freunden hier genießen, Gespräche, Diskussionen, Albereien – all das steht nun wieder ganz oben auf der Agenda für die nächste Zeit. Und das Adagio ist genau der richtige Ort dafür.

  1. Mai 2007