Ich brauche das nicht. Neun Tage Köln, Anfang November 2004. Dabei ist es nicht so, als ob ich gar keinen Spaß hätte, neben den Pflichtterminen, die ich nacheinander abhake: Zahnarzt (Routinekontrolle), Internist (Blut abzapfen lassen), Urologe (Krebsvorsorge), noch mal Internist (Untersuchung und Besprechung). Kein Befund, nirgendwo, alles in bester Ordnung (selbst die Leberwerte, trotz des vielen guten Weines in den Marken…). Ich weiß, inzwischen noch genauer als früher schon, was für ein Glück das ist, mit zunehmendem Alter, immerhin bin ich seit drei Monaten anerkannter Rentner.
Spaß also auch beim Pflichtprogramm.
Mehr natürlich bei der Kür: Besuch der Lokale von damals, vietnamesische Fischsuppe und gebratener Reis, Kölsch dazu, die gleiche herzliche Begrüßung im Stammcafé SPITZ am Eigelstein, wo ich immer gesessen und geschrieben habe; und noch mehr die Treffen mit Freundinnen und Freunden. Kaum genug Zeit für alle, die mich gern sehen wollen, die ich gern sehen will. Und immer die gleiche Antwort auf die gleiche Frage: ob es mir denn weiterhin so gut gefällt, da unten in den Marken? Ein schlichtes, aber uneingeschränktes: Ja.
Ich brauche das nicht. Fernsehen zum Beispiel. Zunächst kam mir der erste Blick in den Kasten noch vor wie eine freundliche Aufforderung an den in mir schlummernden altbösen Satiriker: Rudolf Graf Pilati Scharping als Experte für die deutsch-amerikanische Freundschaft bei Sabine Christiansen – ja, a Woahnsinn!! Sofort abgeschaltet natürlich. Aber in den nächsten Tagen diese gelegentlich reingezappten Fetzen der ARD-Berichterstattung von dem Kasperletheater Kerry-Bush-Wahl zeigten mir wie Tagesschau und Tagesthemen – das ist alles so fürchterlich uninteressant, unwichtig; für mich…
Ich brauche das nicht: diese Menschenmassen morgens, zum Beispiel, kurz vor acht auf dem Bahnsteig 9 und im Nahverkehrszug von Köln über Bonn nach Koblenz (ich muss ja Gottseidank nur bis Sechtem, das dauert 19 Minuten). Todmüde Gesichter, Dunkle Ringe unter leeren Frauenaugen, kein Cajalstift und kein Hinweis auf ausschweifend genossene Nächte der Lust), Männerkinne mit verkrampft aufeinander gepressten Kiefern, böser Blick ins Leere des überfüllten, stickigen Abteils.
Ja doch: diese Stadt Köln ist dem Frohsinn verpflichtet, in wenigen Tagen geht es wieder los, auf dem Altermarkt. Nur: er ist nirgends mehr zu spüren, dieser Frohsinn. Und die Plakatserie der – na, wer sonst! – BILD-Zeitung verstärkt noch den Eindruck von Elend und Trostlosigkeit: SUFFE, POPPE, DANZE – wo es in unserer Stadt richtig abgeht. (Für Nichtkölner: SAUFEN, FICKEN, RUMHOPSEN – warum eigentlich nicht KOTZEN?)
Ich brauche das nicht.
Und auch das nicht: diese Ängste und Sorgen. Um buchstäblich das tägliche Brot; um das Kind, schon erwachsen und doch (noch) nicht lebensfähig; um den Arbeitsplatz; um die eigene Gesundheit oder die der Familie; ganz allgemein: um die Zukunft. Nein, das hab ich früher so nie erlebt (als es meinen Eltern so ging, kurz nach dem 2. Weltkrieg, war ich noch zu klein, um das mitzukriegen). Natürlich gab es auch früher schon Ängste und Sorgen, Unzufriedenheiten und Ärger, Frust und Wut. Aber das war anders: da gab es auch noch die Überzeugung, es ließe sich etwas dagegen tun, es gab den Glauben an die Veränderbarkeit. Wenn wir erst mal, beispielsweise, eine linke Regierung hätten (sorry: die SPD galt ja mal wirklich als links…), ergänzt durch Leute aus der Friedens- und Umweltbewegung, dann würden – ach was! Keine Revolution natürlich – aber doch Schritt für Schritt Verbesserungen durchgesetzt, soziale und außenpolitische. Hahaha! Rotgrün ist an der Macht, seit 1998, und als neue Höhepunkte der – im perfekten Orwell’schen Newspeak „Reformen“ genannten – Gemeinheiten kommen aus eben diesen total vereichelten SPD-Hirnen Anregungen wie die Abschaffung des 1. Mai als Feiertag oder die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche. Und die Grünen waren im Kosovokrieg so verlogen-idealistisch mit von der Schröder-Scharping-Partie wie nicht einmal gestandene Konservative aus der Union. Die ja, wenn sie denn wieder dran käme an die Regierung, nicht besser wäre (wenn auch, so scheint es mir, nicht sooo viel schlimmer als Erfüllungsgehilfen von Ackermännern, Rogowskis und der ganzen neoliberalen Global-Bagage).
Ich brauche das nicht. Und, mehr noch: ich werde da nicht gebraucht. Weniger denn je. Illusionen hatte ich nie (nun gut: selten…), dass mir irgendwann bescheinigt werden könnte, ich hätte mich „verdient gemacht“ um (wenigstens einen Teil von) Deutschland“.
Also zurück in die Marken, aus der Stadt aufs Land, aus der Zivilisation auf die Baustelle. Ach du lieber Himmel, ja: Berlusconi…!? Ich bin ja nicht blind. Aber hier bin ich so weit weg von all dem Elend auch in diesem Land.
Eine unglaublich schöne Gegend. Ruhe. Sonne. Zwanzig Minuten zum Meer. Nebelschwaden als Herbstboten. Jeden Abend sehe ich den Fortschritt meiner eigenen Hände Arbeit, am Haus, im Gelände, und ich belohne mich mit einem guten Essen und einem herrlichen Rotwein.
Hier werde ich gebraucht. Und das brauche ich.
Noch vor ein paar Jahren wäre ich schreiend von hier weggerannt. Die Szenerie ist ja auch schwer noch zu steigern – dieser riesige Speisesaal, die Decke vier Meter hoch, getragen von fünfzehn mächtigen Säulen, strukturiert durch zwei schwimm-badgroße Vertiefungen, himmelblau schwammtechnik-gestrichen, daraus hängen drei überdimensionale Kronleuchter herab, in Gestalt des Columbus-Schiffes „S. Maria“, fast in Originalgröße, die Planken aus zartrosa und weißem geriffeltem Glas, blaue Ankerchen am Bug, auf den hellgelben drei Segeln die blutroten Kreuze…
Unter alledem gut hundert Tische, Landhausstil mit einem kleinen Kunstblumenstrauß drauf, teils für zwei Gäste (oder einen: wie mich), die Mehrzahl für vier. Nur sieben Tische sind besetzt. Das ist nicht nur der Jahreszeit geschuldet: heute ist auch, in einer Kneipe in der Nähe, ein „Fest“. Mit Tanz, hat die freundliche junge Frau an der Rezeption erklärt, und als ich, leicht entsetzt, abwinkte, hat sie gegrinst, mit Blick auf die Gruppe dort in der Ecke – sechs, acht hörbare Österreicher mit Frauen, Trachtenanzüge samt Gamsbarthut, auch hier in der Lobby nicht vom Quadratschädel genommen. Ein paar Sachsen dazu, etwas entfernt davon. Deutsch dominiert also, als Sprache, an der Rezeption wie bei den Obern und bei diesen Gästen natürlich sowieso. Irgendwie, auch wenn sie beide es nicht wirklich wollen, gehören sie enger zusammen als die derzeitige Staatenordnung es ausweist, Austria und Germania.
Und wie komme ich in dieses Szenario? Und wieso bleibe ich?
Kurz gesagt: es ist das Ergebnis von mehr als einem Jahr fast ununterbrochener harter Arbeit, körperlich wie geistig, an diesem Haus in den Marken. Dazu und gleichzeitig die Lebensumstellung, Schwergewicht jetzt aufs Private verlegt, Abnabelung vom politischen Mutterkuchen. Und: das Wagnis der Erneuerung einer alten, zerbrochenen Beziehung. Nicht zuletzt: der Eintritt ins Rentenalter. Jeder Teil schon Grund genug für das Resultat, vor kurzem: Nervenkollaps. Nicht wirklich dramatisch, aber heftig genug, um den Rat der Partnerin ernst zu nehmen: eine Auszeit ist angesagt. In einer Erinnerungswolke aus einem meiner früheren Leben wabert vage ein Name herbei: Abano Terme. Kurort…
Eine Kur??? O Gott nein – der Begriff ist besetzt: gebrechliche Greise beim verzweifelten Versuch, verlorene Potenzen durch Schlammpackungen zurückzuzwingen, albern kichernd hinter den Tröstungen herhechelnd, die abgehärmte (oder verfettete) Kurschatten zu spenden vorgeben. Einmal pro Woche Tanz. Einmal Kurkonzert: Musiklehrerstreichquartett aus der übernächsten Kreisstadt; oder ausgemusterte Popstars von einst auf Bädertournee – Roberto Blanco für arme Kranke.
Inzwischen wird dieser damals so bedeutende Wirtschaftszweig nicht mehr subventioniert durch großzügige Krankenkassen. Der Zwang, sich zu behaupten, hat zu Änderungen geführt; statt „Kur“: Wellness (oder hier eben „Benessere“), die einstigen „Anwendungen“ heißen “Lymphdrainage Methode Vodder“ oder „Hydrokineiotherapie“ oder „Ayurveda-Massage“.
Aber diese Camouflage ändert ja nichts am Kern. Auch heute paddeln todmüde Ausgemusterte im Zeitlupentempo durch das heiße Wasser der Therme. Und das Gesamtbild wird kaum besser dadurch, dass am zweiten Abend meines Aufenthaltes hier fast nur noch italienische Alte hier sind.
Also bitte, noch mal: warum bleibe ich hier, und das auch noch durchaus gerne? Verschiedene Gründe. Erstens bin ich freiwillig hier, kein Arzt, keine Kasse haben mich hierher überwiesen. Dann: ich habe schon immer ein Faible für die Vor- und Nachsaison gehabt. Jetzt, Anfang Februar, ist hier sozusagen die toteste aller Hosen. Nur eine Handvoll Hotels hat überhaupt geöffnet, an den anderen wird gemächlich gehämmert, gemalt, ausgebessert, für die neue Saison (auf-)gerüstet. Die Stadt hat den ganzen Tag über etwas leicht Verpenntes, Langsames. Komisch bei dem wolkenlos sonnigen Tag die vielen sichtbar reichen Frauen (oder: Frauen der Reichen) in wulstigen Pelzmänteln, beim Shopping oder beim Ratschen im Café. Baden-Baden auf Italienisch. Und auch das überzeugt: das Hotel Terme Cristoforo lockt in dieser „Sondersaison“ mit Supertiefstpreisen, Einzelzimmer mit Vollpension 63 €; die Angestellten haben Zeit für jeden Gast, scherzen noch ausgeruht, geben geduldig auch auf Italienisch Auskunft. Das Essen ist nicht Spitze, aber doch gut bis sehr gut. Und das Zimmer, vor allem, könnte eines in Paris oder Amsterdam sein: in der ganz neu gestalteten fünften Etage, geschmackvoll eingerichtet, breites Einzelbett, großer Tisch zum Schreiben, breiter Balkon nach Südosten, geräumiges modernes Bad – hier kann ich mich gut aufhalten, aufwärmen, auftanken, aufbauen. Auch aufregen, kurzzeitig: im kleinen Fernseher gibt es RTL, SAT 1, 3 sat und das ZDF. Dessen frisch haargefärbter Nachrichten-Kleber barmt in „heute“ scheinheilig über die „Katastrophe“ der fünf Millionen Arbeitslosen, die ein weiterer Mainzelexperte stolz auf „in Wahrheit sieben Millionen“ hochrechnet. Eine Zahl, die des Kanzlers Clement mit seinem hundetraurigen Blick als „fortschrittlich, weil endlich ehrlich“ benuschelt.
Aufbegehren? Aber nein! Aufhören, aufhören!!! Den Apparat abschalten. Das gute Buch nehmen. Ins gemütliche Bett legen.
Lesen.
Ausschlafen.
Erholen. Im großen Thermalschwimmbad, innen wie außen. In der „Schwitzgrotte“ genannten verschämten Quasisauna: die Leute lassen die Badeklamotten an… Und bei Shiatsu- und Ayurveda-Massage, jeweils eine Stunde, offenbar fachkundig – rilasciamento perfetto…
Der Tag der Heiligen drei Könige – ein Feiertag hier in Italien, so wie ja auch in Baden-Württemberg oder Bayern, natürlich, hat in all diesen Ländern doch das Christentum seine wahre Endform erreicht, weit weg von den manchmal ein bisschen einfallsarmen Darstellungen der Bibel, in der z.B. weder das Ehrfurcht gebietende Beiwort „heilig“ im Kontext mit diesem heutigen Festtag überliefert wird noch die magische Zahl „drei“, geschweige denn etwas von „Königen“ (die Rede ist bloß von „den Weisen aus dem Morgenlande“) – an diesem Tag also ereignet sich auch bei uns im ganz privaten Rahmen ein weiteres Wunder: es geht hinunter in die Zivilisation.
Ursprünglich war ja geplant gewesen, schon den wundersamen Heiligabend in dem (ehemaligen) Stall zu begehen (christlichen Assoziationen entgeht man hier wahrlich nur selten); aber das widerliche Wetter und die diesbezügliche Sorglosigkeit der Baufirma hatten das unmöglich gemacht. Immerhin also diese fromme Gemeinsamkeit mit dem trauten hochheiligen Paar: zugig, ungeheizt, sonst hatten wir keinen Raum in der Herberge, nicht mal eine Kuh wärmte ein bisschen, den Esel habe ich in Personalunion mit dem Josef selbst gegeben. Apropos Wetter: seit zwei Tagen strahlt die Sonne aus wolkenlosem Himmel, im Windschatten ist es fast fürs T-Shirt zu warm, das azurblaue Meer plätschert harmlos an den leeren Sandstrand vor dem Restaurant, in dem ich zu Mittag esse. Wenn ich es nicht anders wüsste, könnte ich mich fragen, wozu um alles Gas der Welt man hierzulande eine Zentralheizung braucht. Aber den Schnee gab es hier im letzten Jahr auch erst Ende Januar (und Ende Februar auch noch mal), und nachts ist es, bei sternklarem Himmel schon jetzt eher eisig. Kein Bedauern also über das Verlassen der oberen Räume im Casa Adagio, in denen man morgens noch lang nach dem Frühstück den eigenen Atem durch die Luft wandern sieht, weil undichte alte Fenster mit ihrem dünnen einfachen Glas (und stückweise wo nötig durch Pappstücke ersetzt) die Wirkung des Gasflaschenofens – trotz Verstärkung durch ein mächtiges Kaminfeuer – so schwächen, dass die gegen Abend erreichten siebzehneinhalb Grad Celsius schon als richtiggehend warm empfunden werden. Keine verschämte Entschuldigung auch dafür, dass im Erdgeschoss nun neue, dichte Doppelglasthermofenster und solide (und auch noch durchaus formschöne) Heizkörper in Zimmer und Bad eine neue Wertschätzung zivilisatorischen Fortschritts hervorrufen, was wir in der BRD allzu lange als selbstverständlichen Standard angesehen hatten. Vorbei endlich die Zeiten, in denen Restaurants wie dieses „Luna Rossa“ hier am Strand von Senigallia nicht so sehr wegen der hervorragenden Küche aufgesucht wurden, sondern vor allem wegen der angenehm temperierten Atmosphäre.
Das neu gewonnene, erarbeitete – nicht geschenkte – Wohlbehagen ermöglicht auch die gelassene Aufnahme und Verarbeitung der Nachrichten aus dem immer ferneren Deutschland; etwa die Berichte über die neuesten Heldentaten der Schröfischköpfe in Berlin, deren asoziale Realo-„Reform“politik längst mit dem guten alten Grundgesetz ebenso wenig zu tun hat wie das eingangs erwähnte zeitgenössische Christentum mit der guten alten Bibel. Warum wohl der gute alte Herrgott seine Tsunamis nicht über Europa und die USA hat rollen lassen? Zu Noahs Zeiten jedenfalls, so liest man, hat er noch gezielt bestraft. Oh nein! Das ist natürlich kein Wunsch und schon gar kein frommer! Wie könnte ich auch so idiotisch sein und damit die Zerstörung auch all dessen herbeiwünschen, was wir jetzt an Zivilisation da unten in unserm Haus, da unten im guten alten Italien genießen dürfen. Und die weiteren Aussichten sind ja ebenfalls heiter, jetzt, wo es auch mit den Außentemperaturen wieder langsam aufwärts geht, wo die Tage länger werden, also: wo auch die Natur wieder zu jenem zivilisatorischen Standard findet, den wir in diesen Breiten so schätzen… Januar 2005