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Notiz 35: Überraschungen

Das Erfreuliche am Älterwerden: es gibt immer weniger böse Überraschungen; man hat sie nach und nach alle überlebt. Noch erfreulicher aber, finde ich: es gibt immer noch auch schöne Überraschungen. Die größte in der letzten Zeit war für mich der deutsche WM-Sommer 2006. Entgegen meinen (und nicht nur meinen) Befürchtungen – und die waren ja auch nicht ganz unbegründet – strahlte die seit Jahren mir so trist und DDR-grau vorkommende BRD in den warmen Farben von Weltoffenheit und Gastfreundschaft, ein Bild, wie ich es nie in meinem Leben gemalt hatte und mir auch nicht vorstellen konnte, obwohl ich es mir immer gewünscht hatte. Ich konnte es zuerst kaum glauben, fragte zweifelnd nach, suchte nach verschwiegenen, verheimlichten Fakten (von denen es ja auch ein paar gab, aber offenbar nur marginale), ich sprach mit Menschen, deren Urteil ich vertraue. Und fand bestätigt, was da aus dem Norden herüberwehte an einer Heiterkeit und einem unüberheblichen Selbstbewusstsein, wie ich es bisher nur von anderen Ländern, etwa denen ums Mittelmeer herum, kannte. Nach dem verbissenen „deutschen Herbst 1977“ und dem in wesentlichen Teilen nie ganz unaktuell gewordenen „Wintermärchen“ von Heinrich Heine nun dieser „deutsche Sommer“ – fehlt eigentlich nur noch ein entsprechender Frühling zu einer ausgeglichenen Bilanz…
Die schönste Überraschung der letzten Zeit aber war die Erfahrung mit den Gästen hier im Adagio. Dass alle, ohne Ausnahme (und es waren nicht wenige) unverstellt begeistert das Haus, seine Lage und die Gestaltung von Räumen und Gelände lobten, freut natürlich. Und bestätigt, dass die vielen Entscheidungen, die oft in kürzester Zeit getroffen werden mussten, richtig waren, dass sich das Wagnis Adagio auszahlt. Unvermutet aber gab es noch mehr: die Begegnung mit ganz unterschiedlichen Menschen, von ihrer Herkunft wie von ihrem Alter; ein kurzes Geplauder nach der Rückkehr von einem Ausflug zum Strand, in den Apennin oder eines der Städtchen der Marken; die Einladung zu einem Glas Wein oder zu einem Abendessen, mal im Restaurant, mal unter der großen Eiche oder auf der Gästeterrasse; dabei unversehens in Gespräche gekommen, erstaunliche Biografien werden erzählt, manchmal zögern zuerst, stockend, mit abwartender Vorsicht, dann aber oft ausführlich, mit Einzelheiten, über die nicht leicht zu reden ist, zumal mit Menschen, die man noch nicht so gut kennt, bis hin zu tiefer Bewegung, nachdenkliche Pausen, leise Ergänzungen, ein tiefer Schluck aus dem Glas – und dann doch immer wieder zurückgefunden zu der Heiterkeit einer warmen Italienurlaubsnacht und der gelassenen Ruhe eines Hauses inmitten der sanften Hügel der noch weitgehend intakten Landschaft der Marken.
Ein Gefühl von Glück. Und von Dankbarkeit, dass sich so etwas ereignet, hier, heute, für Augenblicke, die sich zu Stunden, zu Tagen summieren. Und nicht nur ein Mal, als Ausnahme. Sondern – so scheint es – als eine geschenkte Qualität des Hauses Adagio.

20. August 2006