Notiz 36: Wunder
Wunder, so versicherte einst im Jahre 1970 eine deutsche Populär-Sängerin, Wunder gebe es immer wieder, das Problem sei: ich müsse sie auch sehn, wenn sie mir begegneten. Viel zu lange habe ich, wie mir scheint, an dieser Realität mit beharrlich geschlossenen Augen vorbeigelebt. Jetzt endlich und hier in Italien (kein Wunder!, mögen Menschen denken, die mir in dieser Hinsicht voraus sind) mache auch ich dergleichen Beobachtungen, zum Nachteil meiner in Jahrzehnten stabil gebliebenen Überzeugung als tiefgläubiger Atheist.Ein Beispiel? Ha! Viele! Etwa: mein Handy, Produkt einer Weltfirma des nördlichsten Europa, gab nach kaum mehr als eineinhalb Jahren den Geist auf; dergestalt, dass auf dem Display entweder kryptische Zeichen erschienen oder Querbalken oder flackernde Längsstreifen oder schlicht gar nichts mehr. Die Auskunft zweier unabhängiger Fachmänner in Deutschland und Italien: Display ist kaputt, irreparabel, Ersatz viel teurer als der Erwerb eines neuen Apparates, man kennt das. Sowohl ökonomische Überlegungen als auch der mir fehlende Wille, ein Telefon zu erwerben, mit welchem man auch Filmen, TV kucken und die Gedanken entfernter Verwandter sichtbar machen kann, führten zur Anschaffung eines gebrauchten Handys für 25 Euro. Wie nicht anders zu erwarten, gab dieses schon unmittelbar nach Ablauf der 3-Monats-Garantie sämtliche Funktionen auf.
Warum ich daraufhin das frühere, noch in einer Schublade herumliegende Weltmarkengerät noch einmal ans Ladegerät hängte und anschließend mit meinem Chip testete, weiß ich nicht. Was ich aber inzwischen weiß: das Ding arbeitet seither – und es handelt sich um Monate – ohne zu murren und einwandfrei. Ein Wunder! Es ist mir begegnet, und ich muss es auch sehn.
Und eben nicht das einzige! Im Twingo meiner Lebensgefährtin funktioniert der elektrische Fensterheber der Beifahrertür wieder, nach einem Vierteljahr Streik. In meinem eigenen PKW, einer schon an sich wundersamen japanischen Antiquität, stellte kürzlich der Anlasser seiner Arbeit ein – um sie nach vier Tagen, ohne die Einschaltung irgendwelcher handwerklichen Maßnahmen, kommentarlos wieder aufzunehmen. Und, ein vorläufig letztes Beispiel: ein Kühlschrank, auch er seit gut siebzehn Jahren in Gebrauch, ließ Anfang dieses Jahres zwar noch sein inneres Licht leuchten, blieb aber ansonsten völlig uncool. Ausrangiert und im Arbeitskeller als möglicher Aufbewahrungscontainer für Werkzeuge vorgesehen, setzte er im heißen Juli 2006 die mich langsam fassungslos machende Wunder-Serie fort: nur so aus Daffke mal wieder angeschlossen tut er seither eiskalt seine Pflicht. Mir sind – und dies gerade in meinem letzten Lebensjahr – immer mal wieder Menschen begegnet, die zum Beispiel beim Sprießen und Erblühen kaum handgroßer Setzlinge zu brusthohen Oleanderbüschen oder bei der Geburt eines in der Tat süßen Enkelkindes ehrfürchtig äußern, das sei ja doch echt ein Wunder. Ich bin ja zugegebenermaßen auch begeistert von solchen Erscheinungen, vermag sie mir aber als naturwissenschaftlich geschulter Mensch sehr wohl zu erklären. Was mit bei den eben geschilderten Beispielen nun gerade nicht gelingt. Und deswegen – ich gestehe erneut meine Irritation ein – handelt es sich dabei um wirkliche und wahrhaftige Wunder. Ob und wie das nun mit Italien zu tun, kann ich nicht sagen. Es beschäftigt mich auch nicht so sehr. Weniger jedenfalls als die Frage, wie lange ich einfach zuwarten soll, nachdem seit vorgestern die Halogenbirne im linken Scheinwerfer meines PKW nicht mehr glühen mag. Zumal ich mir nicht sicher bin, ob ein mich kontrollierender Carabiniere meine Erklärung akzeptiert, dass ich auch in diesem Fall auf ein Wunder warte, und wenn es mir begegnet, ich dann schon wieder gut sehen werde.
16.9.2006