ITA ING DEU

Notiz 63: Gedanken zur (Aus-)Zeit

Immer öfter wird diese Frage gestellt, immer ungeduldiger, und nicht mehr nur im privaten Kreis von Freundinnen und Freunden oder Gästen, inzwischen auch zunehmend in den Medien, nicht nur in Italien, auch in den großen Blättern in Frankreich, England, Spanien, Deutschland, in der New York Times oder jetzt kürzlich in Davos, beim Welt-Treffen von Wirtschafts-Lenkern und Politikern, die Frage: was ist bloß los in Italien, wie lange erträgt dieses Volk noch diesen Regierungschef, diesen Silvio Berlusconi, diesen „Cavaliere“?

Ich habe darauf auch keine Antwort. Zu bizarr und undurchschaubar ist, was sich hier abspielt. In jedem anderen (west-)europäischen Land hätte, was von diesem Regierungschef so alles bekannt geworden ist, längst zu dessen Rücktritt geführt, führen müssen. In Rom hält eine ihm unerschütterlich hörige Parlamentsmehrheit diesen Berlusconi im Amt und eine bleibend schwache Opposition vermag nichts daran zu ändern. Gewiss: die erdrückende Medienmacht des Cavaliere erklärt vieles. Vielleicht auch, dass und warum immer noch so viele Italiener – und leider auch immer noch zu viele Italienerinnen1) – ihn bewundern und wahrscheinlich bei Neuwahlen auch wieder für ihn stimmen würden. Was tun also? Alle Überlegungen, Diskussionen mit unseren Freundinnen und Freunden hier, noch so intensives Nachdenken führen nicht zu aussichtsreichen Auswegen. Es ist zum Verzweifeln.

Oder: es ist Zeit für etwas anderes. Für eine Auszeit. Angeregt durch eine Passage in meinem Kundalini-Yoga-Buch kam ich ins Nachdenken über diesen berühmten Satz von Descartes, dieses cogito-ergo-sum, dieses Ich-denke-also-bin-ich. Was auch ich schon immer für unverzichtbar gehalten habe und was mein Leben mitbestimmt hat. Und nun habe ich gelesen, dass im Yoga der Satz ins Gegenteil verkehrt wird: Ich denke nicht, also bin ich; mit ausführlicher Erläuterung und Begründung. Verwirrend zunächst. Und dann doch auf einmal hilfreich. Weil: ich kann mich mit so mancher Frage ohne Antwort – und es ist ja nicht nur die eingangs zitierte – einfach zurückziehen. Ich kann in diesem schönen Haus am Ende einer kleinen Straße, die dennoch keine Sackgasse ist, mich nur mit dem beschäftigen, was hier und heute wichtig ist: verhindern, dass der unaufhörlich strömende Januar-Regen die Grundmauern unterspült; ich kann in der ein paar Tage später wie im Mai strahlenden und warmen Februar-Sonne die Hecken und Bäume beschneiden; das abendliche Licht auf den umliegenden Hügeln genießen; die ersten wiedergekehrten Vögel am Morgen lärmen hören; bei der Rückkehr von einem wunderbaren Restaurantessen mich amüsieren über das Stachelschweinepärchen, das unbeholfen über die Straße hoppelt; mir vorstellen, wie in ein paar Monaten wieder diese mediterrane Wärme zu einem Glas kühlen Weißweins unter der mächtigen Eiche einlädt…

Nein, das ist alles kein Augenverschließen vor der Realität. Es ist ja auch Realität, nur eine andere. Nicht nur für mich, nicht nur für uns beide – beim Lesen der Einträge in den Gästebüchern wird spürbar, dass sich diese Erfahrung vermittelt auch für andere, die aus den verschiedensten Gründen ebenfalls eine Auszeit suchen, einen Urlaub, eine Erholung brauchen. Und die dann, wenn sie das hier gefunden und genossen haben, wieder zurückkehren in ihre jeweilige Realität, der sie auf Dauer nicht entfliehen können und auch nicht wollen.

So wie auch ich wieder zurückkehre, immer wieder, und mich den Fragen stelle, mich stellen muss, die dazu gehören auch in diesem so schönen Land. Fragen, denen ich mich mit neuer Gelassenheit stellen kann, weil ich weiß, dass es sich um Zustände und Ereignisse und Personen handelt, die nicht die einzige, nicht die ganze Wirklichkeit sind in diesem Land. Ich bin nicht nur, weil ich denke. Ich bin auch, weil ich fühle. Weil ich Geduld habe und warten kann. Auf die Antwort, die vielleicht schon bald kommt, schneller womöglich als es derzeit den Anschein hat. 

Und weil immer auch diese andere Realität da ist. Die ich gedankenlos, bedenkenlos erleben kann. Und wofür ich mich nicht entschuldigen, nicht rechtfertigen muss, weil sie mir die Kraft gibt, auch Dinge zu ertragen wie z.B. diese nicht enden wollende Beleidigung von Verstand und Gefühl durch eine Figur wie diesen Cavaliere.

1) Ermutigend inzwischen die Demonstrationen (z.B. am 13. Februar) in so vielen Städten Italiens, ja der ganzen Welt, mit einer geschätzten Gesamtzahl von einer Million Teilnehmern, organisiert und gestaltet von Frauen, mit dem Ziel „Dimettiti“ („Tritt zurück!“) und „Basta!“

März 2011