ITA ING DEU

Notizen (21): ABANO TERME. HOTEL CRISTOFORO

Noch vor ein paar Jahren wäre ich schreiend von hier weggerannt. Die Szenerie ist ja auch schwer noch zu steigern – dieser riesige Speisesaal, die Decke vier Meter hoch, getragen von fünfzehn mächtigen Säulen, strukturiert durch zwei schwimm-badgroße Vertiefungen, himmelblau schwammtechnik-gestrichen, daraus hängen drei überdimensionale Kronleuchter herab, in Gestalt des Columbus-Schiffes „S. Maria“, fast in Originalgröße, die Planken aus zartrosa und weißem geriffeltem Glas, blaue Ankerchen am Bug, auf den hellgelben drei Segeln die blutroten Kreuze…
Unter alledem gut hundert Tische, Landhausstil mit einem kleinen Kunstblumenstrauß drauf, teils für zwei Gäste (oder einen: wie mich), die Mehrzahl für vier. Nur sieben Tische sind besetzt. Das ist nicht nur der Jahreszeit geschuldet: heute ist auch, in einer Kneipe in der Nähe, ein „Fest“. Mit Tanz, hat die freundliche junge Frau an der Rezeption erklärt, und als ich, leicht entsetzt, abwinkte, hat sie gegrinst, mit Blick auf die Gruppe dort in der Ecke – sechs, acht hörbare Österreicher mit Frauen, Trachtenanzüge samt Gamsbarthut, auch hier in der Lobby nicht vom Quadratschädel genommen. Ein paar Sachsen dazu, etwas entfernt davon. Deutsch dominiert also, als Sprache, an der Rezeption wie bei den Obern und bei diesen Gästen natürlich sowieso. Irgendwie, auch wenn sie beide es nicht wirklich wollen, gehören sie enger zusammen als die derzeitige Staatenordnung es ausweist, Austria und Germania.
Und wie komme ich in dieses Szenario? Und wieso bleibe ich?
Kurz gesagt: es ist das Ergebnis von mehr als einem Jahr fast ununterbrochener harter Arbeit, körperlich wie geistig, an diesem Haus in den Marken. Dazu und gleichzeitig die Lebensumstellung, Schwergewicht jetzt aufs Private verlegt, Abnabelung vom politischen Mutterkuchen. Und: das Wagnis der Erneuerung einer alten, zerbrochenen Beziehung. Nicht zuletzt: der Eintritt ins Rentenalter. Jeder Teil schon Grund genug für das Resultat, vor kurzem: Nervenkollaps. Nicht wirklich dramatisch, aber heftig genug, um den Rat der Partnerin ernst zu nehmen: eine Auszeit ist angesagt. In einer Erinnerungswolke aus einem meiner früheren Leben wabert vage ein Name herbei: Abano Terme. Kurort…
Eine Kur??? O Gott nein – der Begriff ist besetzt: gebrechliche Greise beim verzweifelten Versuch, verlorene Potenzen durch Schlammpackungen zurückzuzwingen, albern kichernd hinter den Tröstungen herhechelnd, die abgehärmte (oder verfettete) Kurschatten zu spenden vorgeben. Einmal pro Woche Tanz. Einmal Kurkonzert: Musiklehrerstreichquartett aus der übernächsten Kreisstadt; oder ausgemusterte Popstars von einst auf Bädertournee – Roberto Blanco für arme Kranke.
Inzwischen wird dieser damals so bedeutende Wirtschaftszweig nicht mehr subventioniert durch großzügige Krankenkassen. Der Zwang, sich zu behaupten, hat zu Änderungen geführt; statt „Kur“: Wellness (oder hier eben „Benessere“), die einstigen „Anwendungen“ heißen “Lymphdrainage Methode Vodder“ oder „Hydrokineiotherapie“ oder „Ayurveda-Massage“.
Aber diese Camouflage ändert ja nichts am Kern. Auch heute paddeln todmüde Ausgemusterte im Zeitlupentempo durch das heiße Wasser der Therme. Und das Gesamtbild wird kaum besser dadurch, dass am zweiten Abend meines Aufenthaltes hier fast nur noch italienische Alte hier sind.
Also bitte, noch mal: warum bleibe ich hier, und das auch noch durchaus gerne? Verschiedene Gründe. Erstens bin ich freiwillig hier, kein Arzt, keine Kasse haben mich hierher überwiesen. Dann: ich habe schon immer ein Faible für die Vor- und Nachsaison gehabt. Jetzt, Anfang Februar, ist hier sozusagen die toteste aller Hosen. Nur eine Handvoll Hotels hat überhaupt geöffnet, an den anderen wird gemächlich gehämmert, gemalt, ausgebessert, für die neue Saison (auf-)gerüstet. Die Stadt hat den ganzen Tag über etwas leicht Verpenntes, Langsames. Komisch bei dem wolkenlos sonnigen Tag die vielen sichtbar reichen Frauen (oder: Frauen der Reichen) in wulstigen Pelzmänteln, beim Shopping oder beim Ratschen im Café. Baden-Baden auf Italienisch. Und auch das überzeugt: das Hotel Terme Cristoforo lockt in dieser „Sondersaison“ mit Supertiefstpreisen, Einzelzimmer mit Vollpension 63 €; die Angestellten haben Zeit für jeden Gast, scherzen noch ausgeruht, geben geduldig auch auf Italienisch Auskunft. Das Essen ist nicht Spitze, aber doch gut bis sehr gut. Und das Zimmer, vor allem, könnte eines in Paris oder Amsterdam sein: in der ganz neu gestalteten fünften Etage, geschmackvoll eingerichtet, breites Einzelbett, großer Tisch zum Schreiben, breiter Balkon nach Südosten, geräumiges modernes Bad – hier kann ich mich gut aufhalten, aufwärmen, auftanken, aufbauen. Auch aufregen, kurzzeitig: im kleinen Fernseher gibt es RTL, SAT 1, 3 sat und das ZDF. Dessen frisch haargefärbter Nachrichten-Kleber barmt in „heute“ scheinheilig über die „Katastrophe“ der fünf Millionen Arbeitslosen, die ein weiterer Mainzelexperte stolz auf „in Wahrheit sieben Millionen“ hochrechnet. Eine Zahl, die des Kanzlers Clement mit seinem hundetraurigen Blick als „fortschrittlich, weil endlich ehrlich“ benuschelt.
Aufbegehren? Aber nein! Aufhören, aufhören!!! Den Apparat abschalten. Das gute Buch nehmen. Ins gemütliche Bett legen.
Lesen.
Ausschlafen.
Erholen. Im großen Thermalschwimmbad, innen wie außen. In der „Schwitzgrotte“ genannten verschämten Quasisauna: die Leute lassen die Badeklamotten an… Und bei Shiatsu- und Ayurveda-Massage, jeweils eine Stunde, offenbar fachkundig – rilasciamento perfetto…

Anfang Februar 2005